Maengelexemplar
verbrennen. An das neue Jahr werde ich wiederum eine freundliche Einladung schreiben, ich erwarte viel von ihm, aber es soll den Erwartungsdruck nicht spüren. Diesen Brief werde ich dann vom Balkon werfen. Anna findet die Idee super, und so sitzen wir beide auf meinem Sofa, hören Elton-John-Songs und schreiben. Natürlich kommen wir uns lächerlich vor. Aber es ist uns auch ernst, deshalb machen wir kaum Witze und schreiben fleißig mit der Zungenspitze im Mundwinkel wie zwei Drittklässler beim Diktat. Als wir fertig sind, lesen wir uns verschämt gegenseitig die Briefe vor. Unser Ansatz ist ähnlich: Wir bedanken uns, auf die Karmapolizei schielend, beim alten Jahr für die Lektion, die es uns erteilt hat. Wir versprechen, dass wir verstanden haben, was man uns hat sagen wollen, und bitten am Ende darum, jetzt aber gehen zu dürfen. Wie beim Nachsitzen. Mein Brief endet mit »... und jetzt verpiss dich bitte!« Ich denke, dass das schon klargeht. Das alte Jahr wird ja wohl ein wenig Spaß verstehen.
Würdevoll klappern wir mit unseren Stöckelschuhen über meine Holzdielen auf den Balkon. Wir haben die Bowle und die Musik dabei und stehen wie zwei gutgekleidete Hexen still an meinem Grill. Nachdem wir fachmännisch das Feuer entfacht haben, werfen wir zu »Rocket Man« unsere Briefe in die Flammen. Ich verbrenne zusätzlich noch die Karte, die Philipp mir zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hat, denn darauf ist ein Bild von uns beiden, auf dem wir glücklich tun. Außerdem landen noch ein Foto von David, die Verpackung meiner Tabletten und das Protokoll der Notaufnahme im Feuer.
Ich spüre weniger, als ich mir erhofft hatte, aber augenscheinlich ist das ja eins meiner Probleme, dass ich mich nicht spüren kann. Also bin ich nicht zu enttäuscht, als Anna und ich zitternd vor Kälte zurück in die Wohnung gehen. Es wird schon alles seine Richtigkeit gehabt haben, man muss ja nicht immer ekstatisch die Hände gen Himmel richten.
Ein wenig ratlos sitzen wir auf meinem Sofa und trinken Bowle. Die restlichen zwanzig Minuten bis Mitternacht verlaufen ein wenig zäh.
Und schließlich ist es so weit. In der Großstadt braucht man keine Uhr für den Jahreswechsel, man hört am Feuerwerk, wann Mitternacht ist. Als draußen der Traum eines jeden Pyrotechnikers losbricht, werden wir zwei ganz still und sehen uns mit großen Rehaugen an und können es gar nicht glauben. Und dann erwachen wir aus unserem Koma und umarmen uns und stoßen an und gehen auf den Balkon, um die Stadt brennen zu sehen und um »Willkommen, liebes neues Jahr!« zu brüllen. Vor Euphorie zitternd, nesteln wir unsere Briefe aus unseren Manteltaschen und werfen sie auf die Straße. Unsere verhalten geäußerten Wünsche, unsere Versprechen und Anbiederungen an ein uns völlig unbekanntes Jahr landen auf dem Bürgersteig, und ich hoffe, dass niemand die Briefe finden wird.
Es ist leicht an Silvester, sich vorzustellen, es wäre Krieg. Die Stadt liegt vollkommen in Rauch, und überall ist weißes und rotes Blitzen zu sehen, begleitet von dem bedrohlichen Geräusch der Explosionen. Ich frage mich, ob sich Menschen im Krieg manchmal zum Trost vorstellen, es wäre nur Silvester. Vermutlich nicht.
Wir zünden ein paar Wunderkerzen an, werfen mit Gold- und Silberregen um uns und wagen ein Tischfeuerwerk auf dem Balkon. Mehr Begeisterung für Feuerwerk können wir nicht aufbringen und gehen wieder in meine warme Wohnung.
Wir sind gelöst, der Retter ist da, und er hat den Feind in die Flucht geschlagen. Von jetzt an leben wir in einem befreiten Königreich.
Wir trinken die Bowle aus und versuchen uns im Bleigießen. Ich gieße immer nur undefinierbare Klumpen und frage mich, wie man es wohl schaffen kann, eine Gitarre oder ein Segelboot zu gießen, die laut Verpackung Glück und Geld und Liebe versprechen. Anna gießt nacheinander ein Telefon und einen Tropfen und eine Axt, leider stehen für diese Kunstwerke keine Deutungen auf der Verpackung, und so armselig, dass wir uns dazu passenden Quatsch ausdenken, sind wir dann doch nicht, also schmeißen wir unser Glück in den Mülleimer und singen Karaoke mit meiner Playstation. Anfangs hocken wir wie zwei Hühner schüchtern vor meinem Fernseher und singen mehrfach hintereinander »Father and Son«
,
weil man da nicht so viel falsch machen kann. Irgendwann lecken wir aber Blut, und wir schmettern, tanzend und das Mikrophon wie Rockstars über dem Kopf schwingend, die lautesten Songs der
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