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Maengelexemplar

Titel: Maengelexemplar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Kuttner
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Achtziger. Nur bei »99 Luftballons« halte ich mich zurück, man hat ja auch einen Ruf vor sich selbst zu verlieren. Nachdem wir fünfmal »Father and Son« und zweimal jeden anderen Song, der uns zur Verfügung steht, performed haben, fallen wir mit roten Gesichtern schwitzend auf mein Sofa.
    »Und nun?«, fragt Anna schnaufend. Es ist bereits drei Uhr morgens, aber wir sind adrenalingeschwängert und nicht bereit, so früh schon aufzugeben. »Wir könnten noch zu Davids Party gehen«, schlage ich ein bisschen zögerlich vor. »Bist du sicher?«, fragt Anna. Ich denke darüber nach. Und ich bin nicht sicher, aber ich möchte raus und Musik hören und Menschen sehen und unsere Befreiung feiern, wenn es sein muss, auch mit David im selben Raum. Also schultern wir unsere überschüssige Energie und fahren los.
     
    Davids Wohnung ist zwar voll, aber nicht brechend. Das ist der Vorteil an Silvesterpartys. Sie sind nach Mitternacht nie so richtig ausgelastet, weil wir jungen Menschen Partynomaden sind und, auf der Suche nach etwas noch Besserem, ständig weiterziehen. Ich entdecke David und gehe auf ihn zu, um ihm ein schönes neues Jahr zu wünschen. Er freut sich und drückt mich feste. »Na, Frollein, dich will ich heute tanzen sehen!«, brüllt er mir ins Ohr. David ist der DJ seiner eigenen Party und stocknüchtern. Er ist sehr konzentriert bei der Sache. »Na, lass mich erst mal ankommen«, weiche ich seiner Aufforderung aus. Dann stelle ich ihm Anna vor. David sagt brav Hallo und legt dann weiter auf. Ich verschwinde kurz aufs Klo, um in meine Gefühle reinzuhören, aber die verhalten sich ruhig. Alles ist gut. Top. Das neue Jahr gibt sich schon am Anfang ordentlich Mühe. Anna und ich sind durch die Taxifahrt ein bisschen von unserem Party-Hühner-Enthusiasmus runtergerutscht und müssen uns erst wieder warm trinken. Aber dann sind wir wieder voll da und tanzen sogar. Ich tanze! Richtig mit Körper-im-Takt-Wackeln mitten auf der improvisierten Tanzfläche. Ich tanze mit Fremden. Hübsche und hässliche, ganz egal. Ich schwinge von Tanzpartner zu Tanzpartner, twiste und walzere und diskofoxe. Ich bange meinen Head und stehbluese mit unbekannten Jünglingen. Und dann küsse ich. Einfach so. Den mir fremden Stehbluespartner. Es fühlt sich gut an, und ich komme mir vor wie ein Teenager, weil ich seinen Namen nicht kenne, aber den Geschmack seiner Zunge. Wir schieben uns, die Zungen nicht abgebend, auf die Toilette und drücken am Waschbecken unsere Becken gegeneinander. Ich muss an meine rote Glücksunterwäsche denken und gluckse vor Freude. Mein Kusspartner fummelt an seiner Hose rum, und das ist mir dann doch zu teenageresk, also hüpfe ich vom Becken runter und sage mit glänzenden Augen: »Vielen lieben Dank! Das war sehr toll, aber jetzt werde ich gehen! Ich wünsche dir ein frohes neues Jahr!«
    Und dann gehe ich. David legt immer noch auf, und Anna sieht glücklich aus und spricht mit mir unbekannten Leuten, und ich schicke ihr Küsse per SMS und laufe nach Hause. Es ist halb sieben, und es dämmert. Selbst die wahnsinnigsten Feuerwerksfans sind inzwischen betrunken oder schlafen, meine große schöne Stadt ist ganz leise. Nur meine Schuhe klickerklackern auf dem Bürgersteig, und ich fühle mich diesmal wie in einem deutschen Film. Wie Heike Makatsch, die grade aus irgendeinem Berliner Altbau purzelt, nachdem sie Jürgen Vogel gestanden hat, dass sie ihn liebt. Voller Glück und vor allem voller Hoffnung.
    An der Kneipe neben meiner Haustür wird schon geputzt. Ein Mitarbeiter der Reinigungsfirma lächelt mich an und wünscht mir ein frohes Neues. Das habe ich, guter Mann, denke ich. Mein neues Jahr ist ganz dolle froh! »Danke, Ihnen auch!«, antworte ich und verschwinde in meinem Haus.

Das neue Jahr gibt sich wirklich große Mühe, und ich bin nachsichtig mit ihm. Dass meine Miete drastisch erhöht wird, laste ich ihm beispielsweise nicht an. Auch nicht, dass ich meinen Kneipenjob gekündigt habe. Immerhin geht es gesundheitlich bergauf. Meine Psychiaterin Frau Dr. Kleve habe ich schon seit Monaten nicht mehr gesehen, ihre Schwangerschaftsvertretung interessiert mich nicht, meine Tabletten bekomme ich schließlich auch vom Hausarzt. Zu Anettes Therapie gehe ich nur noch alle vierzehn Tage, und mein Kopf muckt auch sonst nicht auf.
    Und nach ein paar Wochen gelingt dem neuen Jahr ein Coup: Es verschafft mir einen sehr guten Job. Meine alte Agentur ruft an und möchte, dass ich, zumindest projektbezogen,

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