Maengelexemplar
unter seinem Baum. Es ist immer toll und heimelig.
In diesem Jahr lassen wir das Einkaufen weg, weil Nelson Katrin versprochen hat, dass sie gemeinsam den Weihnachtsbaum schmücken. Ich finde das romantisch, aber auch unökonomisch. Hätte ich einen Baum, ich würde ihn schon Ende November schmücken. Aber andere Länder, andere Sitten, und so fahre ich gegen sechzehn Uhr zu Nelson und Katrin.
Katrin öffnet die Tür, umarmt mich feste und wünscht mir frohe Weihnachten. »Du siehst irre aus«, sagt sie, »als wenn du zur Oscar-Verleihung gehst!« Sie hat recht. In unserer Familie kaschieren wir das fehlende festliche Gefühl durch glitzernde Kleidung. Ich bin geschminkt wie eine Hafennutte und trage einen Traum aus Schwarz und Gold.
»Hallo, Irma la Douce!«, begrüßt mich Nelson. »Wenn du noch vernünftige Schuhe anhättest, würde ich dich sofort unterm Weihnachtsbaum nehmen!«, verweist er auf meine beturnschuhten Füße.
»Ach, halt die Klappe, ich habe noch ein Paar goldene Nuttenschuhe für später dabei, aber in denen kann ich nicht Auto fahren«, sage ich und stelle meine Supermarkttüte voller Quatschgeschenke ab.
Katrin verschwindet, nachdem sie uns Tee mit Zimt gekocht und Kekse gebracht hat, in der Küche, um uns nicht bei unserem Ritual zu stören. Ich finde das sehr rührend und habe fast ein schlechtes Gewissen. Nelson sieht es mir wohl an: »Entspann dich! Katrin hat sogar darauf bestanden, dass wir unser Mini-Weihnachten durchziehen!«
»Wie? Hast du etwa in Erwägung gezogen, es ausfallen zu lassen?«, scheinmeckere ich.
Nelson grinst und zieht mich ins Wohnzimmer. Der Baum ist fantastisch und sieht nach Katrin aus.
»Keine Joints und leere Bierbüchsen diesmal?« Ich bin ein klitzekleines bisschen enttäuscht.
Wir trinken unseren Tee und hören Weihnachtsmusik aus dem Erzgebirge. Von außen wirken wir sicher sehr entspannt, aber ich bin ganz hibbelig, ich will meine Geschenke präsentieren! Nelson betrachtet meinen steifen, Gemütlichkeit vortäuschenden Körper, grinst und fragt: »Na? Noch einen Tee?« Ich kucke so böse, wie ich kann, und dann flehe ich: »Geschenke aufmachen, bittebitte!«
Ich schenke Nelson eine Kartenmischmaschine. Ich bin sehr stolz auf mein Geschenk, da Nelson und ich das Mischen unserer Spielkarten fast besser finden als das eigentliche Spielen. Die Maschine sieht irre aus: Sie ist mit Leder bezogen, vollelektrisch und rattert schön laut. Ein kleines Stück Las Vegas unter Nelsons Baum. Außerdem schenke ich ihm noch einen Gutschein für eine Thaimassage. Nelson freut sich sehr und möchte sofort ein paar Karten mischen. Aber das geht leider nicht, denn nun will ich meine Bescherung haben! Nelson hat seine Geschenke sehr sauber eingepackt. Ich nehme an, dass die gute Katrin dahinter steckt, aber das spreche ich nicht an. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht aufs Geschenkpapier. Ich bekomme eine Special Edition von »Trivial Pursuit«: die 90er Jahre. Nelson grinst stolz: »Das ist unsere Zeit, die Neunziger!« Ich weiß, worauf er hinauswill: Wir spielen »Trivial Pursuit« seit Jahren wahnsinnig gern, leider sind wir nach dem Spiel jedes Mal seelisch gebrochen, weil wir nur sehr wenig wissen. Es ist einfach zu schwer. Nelson hofft, uns einen klaren Wissensvorteil durch die zeitliche Eingrenzung der Fragen zu verschaffen. Das ist sehr schlau, und ich freue mich sehr. Aber auch dieses großartige Geschenk können wir nicht sofort aufreißen und losnutzen, denn es ist Zeit, der Weihnachtswanderzirkus ruft. »Danke!«, sage ich artig und aus vollem Herzen. Dann befreie ich noch Katrin aus der Küche, umarme sie und flüstere leise: »Top Verpackung!« und stapfe mit meinen Turnschuhen raus in den grauen Weihnachtsvorabend.
Ich bin aufgeregt. Die neue Weihnachtslokalität beschert mir ein lustiges Bimmeln im Herzen. Ich stöckele in meinen goldenen Schuhen die Treppen zu Mamas Wohnung hinauf.
»Frohes Fest!«, brüllt mir Mama ins Gesicht. Ihr Atem riecht ein bisschen nach Sanddornschnaps, und ich bin beruhigt: Mama ist auch aufgeregt.
Ich werde in die winzige Küche geschleust, wo schon die beiden Ruhrpott-Damen und meine Oma sitzen und am orangenen Sanddorn nippen. Alle kichern und haben rote Bäckchen. Wir versammeln uns um den kleinen Küchentisch, an dem ich noch vor einem halben Jahr tatterig auf meinen Getreidekaffee starrte und Mamas Toast nicht essen konnte. Hitze durchströmt plötzlich meinen Körper. Das Gefühl ähnelt dem eines
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