Maengelexemplar
trinkt mit den Tanten aus dem Pott um die Wette Kräuterschnaps, und wenn wir eine obligatorische Runde »Das Nilpferd in der Achterbahn« gespielt haben, kommen die Skatkarten auf den Tisch, und es geht um Geld. Gegen zehn ist uns allen übel vom Rauchen, und jede rafft ihre Geschenke zusammen, bedankt sich artig und fährt nach Hause, um noch ein wenig fernzusehen oder Freunde zu treffen.
Es ist nicht schlecht, unser Weihnachten, es ist nur irgendwie nie so feierlich, wie ich es mir immer vorstelle. Also zelebriere ich die Vorweihnachtszeit so exzessiv, wie ich kann.
Obwohl das Weihnachtsfest im letzten Jahr exakt so verlaufen ist wie immer, war ich an diesem Abend mit meinen Nerven am Ende. Meine Familie und all die eingespielten Sätze und Kleinigkeiten brachten mich plötzlich auf die Weihnachtspalme. Ich war den ganzen Abend muffelig und zänkisch. Auf meinem geheimen Heiligabend-Bingozettel konnte ich innerhalb einer Stunde alle Reihen abkreuzen, so vorhersehbar waren wir alle geworden. Gegen 17.07 Uhr würde meine Mutter sagen, wie stolz sie auf ihr schönes Kind sei, um 17.15 Uhr würde Oma Mama fragen, ob sie etwas abgenommen habe, kurz vor der Bescherung würden die verrückten Tanten noch ein langes Gespräch über meine Zukunft anfangen wollen, und wie immer hätte sich Oma »beim Kartoffelsalat selbst übertroffen«. Ich wusste genau, wann Mama über die zu hohen Tonlagen der Weihnachtslieder kichern würde und wer kurz vor der Freilegung des Gabentisches daran erinnern würde, dass wir uns dieses Jahr ja eigentlich nichts schenken wollten. Jedes Kreuz auf meinem imaginären Bingozettel machte mich frustrierter. Ich fing immer wieder Streit an und rollte wie ein Teenager bei jeder Kleinigkeit mit den Augen.
Als ich meinen Unmut ein paar Wochen später Mama gegenüber äußerte, war sie überraschend einsichtig, weil sie das damals schon, wie ich heute weiß, als ein Zeichen meines seelischen Ungleichgewichtes sah. Sie schlug vor, dass wir das Ritual ja jederzeit ändern könnten. Euphorisiert von dem Gedanken an ein ganz anderes, ganz furchtbar weihnachtliches Weihnachten nickte ich heftig, wir könnten ab jetzt den Heiligabend wie einen Wanderzirkus jedes Mal in einer anderen Wohnung stattfinden lassen. Ich würde den Anfang machen, dann wäre Mama an der Reihe, dann wieder Oma.
Das war im Februar.
Inzwischen bin ich nicht mehr sicher. Meine Wohnung ist zu klein für einen Weihnachtsbaum, auf den meine Familie aber zu Recht großen Wert legt. Ich spüre plötzlich den Erfolgsdruck wie einen zu engen Fahrradhelm. Außerdem verlangt meine rissige Psyche nach einem Nest. Ich möchte mich in meiner Lieblingsjahreszeit einkuscheln. In etwas Vorgewärmtes, Vertrautes. Ich schleiche zu Mama und trage leise meine Bedenken vor. »Wäre es ganz schlimm, wenn wir Weihnachten bei mir dieses Jahr ausfallen lassen?«
Mama kriegt große Augen.
»Ich meine nicht, ganz ausfallen lassen, nur eben bei mir. Vielleicht könntest du anfangen mit dem Weihnachtswanderzirkus, und nächstes Jahr wäre ich dran?« Ich schäme mich. Wie immer habe ich erst das Maul aufgerissen, und jetzt ziehe ich den Schwanz ein. Aber damals in der Planungsphase konnte ja niemand wissen, dass ich dieses Jahr meinen großen Auftritt im Psychokabinett haben würde. Außer Mama vielleicht.
Aber Mama versteht mein Bedürfnis nach Nestwärme. »Kein Problem, mein Mackenkind. Dann richte ich den Spaß dieses Jahr aus. Aber nächstes Jahr bist du wirklich dran!«
Jaja, nicke ich heftig und bin erleichtert. Nächstes Jahr wird eh alles ganz anders, denn dann ist das aktuelle Jahr, das mich so in den Arsch gefickt hat, im Jahreshimmel.
Auch Nelson und ich haben unser kleines Weihnachtsritual. Was die Vorweihnachtszeit angeht, ist er ähnlich obsessiv wie ich. Nur dass seine Wohnung groß genug für einen Baum ist, und der tut dieses Jahr auch not, denn Katrin und Nelson feiern zum ersten Mal Weihnachten zu zweit und ohne ihre Familien.
»Du kannst gerne auch kommen! Hast ja sonst keine Freunde!«, schlägt Nelson feixend vor.
»Danke, aber du vergisst, dass ich Familie habe!«
Nelson und ich treffen uns seit vier Jahren am Mittag des 24. Dezember, um allerletzte Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Dann geht jeder nach Hause und verpackt die Bücher / Krawatten / CDs / Gutscheine für die Lieben. Bevor jeder zu seiner Weihnachtsgesellschaft fährt, treffen wir uns noch einmal und tauschen Geschenke aus. Seit letztem Jahr singen wir sogar
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