Maengelexemplar
Ruhe zu lassen, und tigere ziellos und gehetzt durch die Wohnung. Ich brülle ihn an, weil das Essen, das er sich bestellt hat, stinkt und mir davon schlecht wird. Ich schimpfe, weil er fernsieht, statt sich um mich zu kümmern, und meckere, weil mir zu kalt ist. Ich kann plötzlich nichts mehr aushalten, alles in mir ist schmerzhaft und fest gespannt. Ich vibriere wie eine Klaviersaite. Dann gebe ich auf und nehme doch die Beruhigungstablette und lege mich ins Bett und weine. Max kommt und nimmt mich, nach Pizza riechend, in den Arm. Er sagt nichts, und ich entschuldige mich schluchzend. Ich kann nicht aufhören, zu weinen, denn die Angst macht mir furchtbare Angst. Sie erinnert mich an schlimme Zeiten und zeigt mir eine lange Nase und dass absolut nichts total in Ordnung ist. Karo hat immer noch eine Macke. Karo funktioniert nicht alleine. So!
Unter diesen Umständen kann ich morgen doch nicht in den Urlaub fahren. Was, wenn ich mitten am Strand komplett durchdrehe? Wer hilft mir dann? Keine deutschen Ärzte.
Max beruhigt mich. »Du schläfst jetzt erst mal. Und morgen früh schaust du, wie es dir geht. Und wenn du dir die Reise dann immer noch nicht zutraust, fahren wir eben nicht. So einfach!«
»Aber wir haben doch schon bezahlt, wir werden nichts von dem Geld wiederbekommen, so kurzfristig wie das ist!«, geißele ich uns.
»Das ist doch jetzt egal, Karo. Dir geht’s beschissen, also fahren wir nicht. Punkt. Ich kümmere mich morgen darum. Vielleicht kann man einfach umbuchen oder so!«, bestimmt Max und macht mir ein Hörspiel an, denn ich brauche etwas, das mich vom Denken abhält. Das weiß mein Max. Er kennt sein anstrengendes Mädchen.
Die Tablette tut ihre Wirkung, aber sobald die Angst schläft, wacht die Traurigkeit auf und wabert durch meinen Kopf. Ihre schwere Decke streckt ihre Zipfel nach mir aus und will sich auf mich legen. Aber ich habe keine Kraft mehr, mich zu wehren, also bleibe ich einfach liegen und stelle mich tot. Vielleicht findet sie mich dann nicht.
Ich wache früh auf und blinzele in die Morgensonne, die schüchtern durchs Fenster schielt. Ich fühle mich ganz erschlagen. Von dem gestrigen Tag und von der Erkenntnis, dass ich nicht so heil bin, wie ich mir eingeredet hatte. Außerdem muss ich jetzt eine Entscheidung fällen: Urlaub ja oder nein.
Neben mir sehe ich einen schönen Rücken voller Sommersprossen, und mein Körper füllt sich mit einem warmen Gefühl. Wie wenn man im Auto die Sitzheizung anmacht: eine strömende, angenehme Hitze. Ein bisschen wie einpullern, nur dass niemand diesen Vergleich mag. Und jetzt scheint er mir auch nicht passend. Ich lasse mich also mit Wärme für Max volllaufen und versuche, auf seinem Rücken Sommersprossenbilder zu sehen. Aber ich entdecke keinen Großen Wagen, auch keinen Bären oder was es sonst so gibt. Ich ziehe in Erwägung, einen Filzstift zu Hilfe zu nehmen, aber ich weiß, dass ich nur zu vergessen versuche, dass ich mich jetzt mal auf mich konzentrieren muss. Meine Verfassung entscheidet darüber, ob wir in acht Stunden in einem Flugzeug sitzen oder nicht.
Also beobachte ich mein Inneres so objektiv wie möglich. Im Gegensatz zu gestern geht es mir besser. Sehr viel besser, aber nicht gut. Die Angst ist vorübergehend weg. Aber der Schrecken sitzt tief. Nun traue ich also nicht nur meinen Gefühlen nicht mehr, sondern auch meinem Körper. Die Angst könnte, so überraschend wie sie gestern kam, jederzeit wieder das Lasso auswerfen und mich dummes Kalb einfangen. Nicht zu wissen, wann und warum etwas mit mir passiert, macht mich irre und wütend. Ich brauche die Kontrolle, zumindest über meinen Körper, und ich sehe nicht ein, weshalb das zu viel verlangt ist.
Ich habe große Angst vor Krebs und Embolien. Ich wusste lange nicht, weshalb mir genau diese beiden Krankheiten solche Furcht einjagen, bis die schlaue Anette meinte: »Na, ist doch ganz klar. Diese Krankheiten kommen schleichend, und sie können dich töten.«
»Aber Aids kann mich auch töten, und das macht mir keine Sorgen«, gab ich zu bedenken.
»Gegen HIV kannst du dich aktiv schützen. Aber du kannst nicht alle zwei Monate deinen gesamten Körper auf Krebs untersuchen lassen, also könnte es theoretisch sein, dass die Krankheit erst festgestellt wird, wenn es zu spät ist«, erinnert mich Anette. Das stimmt. Ich liege oft abends im Bett und werde panisch, wenn ich ungewohnte Schmerzen spüre, die ich nicht sofort einordnen kann, und dann fürchte ich
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