Maengelexemplar
plötzlich, ich könnte sterben, bevor mir irgendjemand helfen kann.
»Das ist ganz typisch für Menschen, die einen Kontrollverlust nicht ertragen. Einer unheilbaren Krankheit wäre man ohnmächtig ausgeliefert. Das ist eine ähnliche Furcht wie vor dem Verlassenwerden: Man ist in den entscheidenden Momenten allein. Wie du es eben sehr oft in deinem Leben warst.«
Soso, dachte ich. Ich bin also ein überkontrollierter Freak, weil ich davon ausgehe, dass ich mich auf andere Menschen nicht verlassen kann. Ich habe die Funktionen meines Körpers und meines Geistes so gut im Griff, dass ich ehrlich überrascht bin, wenn sich die beiden mal wehren und ihr eigenes Ding durchziehen.
Daran muss ich jetzt denken im Bett. Ich muss mich nicht wundern, dass die Angst so überraschend kommt, ich habe schließlich offensichtlich selbst Schuld daran.
Mein Sommersprossenhügel murmelt und dreht sich zu mir um. »Na?«, fragt ein ganz zerknautschter Max. »Na?«, mache ich zurück und verteile großzügig Morgenküsse.
»Wie geht’s dir?«
»Keine Ahnung«, seufze ich resigniert, »das versuche ich schon seit einer Stunde herauszufinden, aber ich komme nicht so recht voran. Eigentlich geht’s mir gut. Aber der Gedanke, mich so weit von zu Hause zu entfernen, ist gruselig«, gebe ich zu. Ich habe keine Angst. Nur Angst vor der Angst.
Mein schmaler Mann tätschelt mir den Kopf, steht auf und murmelt was von Croissants. Als er die Wohnungstür hinter sich zuschlägt, verstehe ich, dass er augenscheinlich welche holt. Ich liege im Bett und blicke traurig auf Max’ gepackte Tasche. Dann denke ich an meine, die noch zu Hause steht. Und an die Reisepapiere und dass wir schon heute Abend Sangria aus Plastikbechern am verschwurbelten Pool trinken könnten. Ich rufe Anette in der Praxis an. Sie geht tatsächlich ans Telefon, und ich witzele, ob sie keine Arbeit hätte. »Was ist los?«, fragt Anette besorgt. Diese Therapeuten können Stress riechen, ich bin mir ganz sicher. Ich erzähle von gestern und heute und morgen und frage, ob sie einen Notfalltermin für mich frei hat. Ich möchte mit ihr sprechen, bevor ich die Urlaubsentscheidung treffe. Sie hat, und ich kann am frühen Nachmittag kommen. Das passt gut, denn dann hätten Max und ich noch ausreichend Zeit, um von Anette zum Flughafen zu fahren. Ich bin erleichtert.
Max kommt zurück und bringt Croissants und Kaffee und Marmelade und verkündet, dass er mir ein Frühstück im Bett erlaubt, weil die Umstände so besonders sind. Das ist natürlich lächerlich, denn
ich
verbiete normalerweise das Frühstück im Bett, weil ich Krümel im Bett hasse. Aber heute sind Krümel das kleinere Übel, und ich erkläre, den Mund voller Blätterteig, Max meinen neuen Plan.
»Wenn wir gegessen haben, packst du deine Sachen zusammen, und dann holen wir mein Gepäck. Wir bereiten uns voll und ganz auf die Möglichkeit vor, tatsächlich zu fliegen. Dann fahren wir mit sämtlichen Taschen zu Anette, und nach der Therapiestunde entscheide ich, ob ich mich traue«, verkünde ich.
Max findet die Idee gut, auch wenn wir dann definitiv nicht mehr umbuchen können. Ich schäme mich, und schon steigen mir wieder die Tränen in die Augen. »Es tut mir sehr leid, dass alles so stressig ist mit mir!«
»Ach, Quatsch. Und dass du anstrengend bist, wusste ich ja vorher«, grinst Max.
»Trotzdem«, beharre ich. »Falls wir wirklich nicht fliegen können, dann mache ich es wieder gut. Ich zahle dir ratenweise das Geld zurück, das du wegen mir in den Sand gesetzt hast!«
»Nun entspann dich mal, Karo, der Urlaub hat nicht die Welt gekostet, und um Geld sollten wir uns erst Sorgen machen, wenn wir tatsächlich nicht fliegen. Und jetzt Ruhe!«
Und dann werde ich ein wenig entspannter. Egal, wie ich entscheide, meine Urlaubsbegleitung wird mich mögen.
Bei Anette passiert im Grunde nichts. Ich erzähle von der Angst und frage sie, ob das alles vielleicht nur eine späte Entzugserscheinung gewesen sein könnte. Dieser Einfall ist mir erst im Auto gekommen, und er gefällt mir ausgesprochen gut! Denn dann könnte ich diesen Vorfall in den Ordner »ergibt Sinn« packen und würde mich direkt aufgeräumter fühlen. Aber Anette, die als Freud-Anhängerin und tiefenpsychologisch praktizierende Therapeutin kein allzu großer Fan von Tabletten ist, hält das zwar nicht für ausgeschlossen, zieht aber eine andere Möglichkeit in Erwägung: »Es könnte doch sein, dass du einfach Torschlusspanik bekommen hast.
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