Maenner fuers Leben
erfuhr, dass er drei Jahre auf dem College gewesen war und dann abgebrochen hatte, als ihm «das Geld ausging». Dass er keinen Rechtsanwalt kannte – bis auf einen Typen namens Vern von der Grundschule, der «heute nach Unfallopfern geiert, aber sonst ein ganz anständiger Kerl ist, trotz seines Jobs – nichts für ungut». Dass seine Brüder und sein Vater bei der Feuerwehr waren, während er diesen Familienberuf «nie besonders verlockend» gefunden habe. Dass er nicht verheiratet war und keine Kinder hatte, «soweit ich weiß». Dass er nie Opfer einer Gewalttat geworden war, «die eine oder andere verlorene Prügelei nicht mitgerechnet».
Und bei Leos letzter Antwort war mein Wunsch, als Geschworene abgelehnt zu werden, komplett verschwunden. Stattdessen akzeptierte ich meine Bürgerpflicht mit ganz neuer Inbrunst. Als ich an der Reihe war, Fragen zu beantworten, tat ich alles, was ich Andys Ratschlägen zufolge nicht tun sollte. Ich war freundlich und entgegenkommend. Ich strahlte die beiden Juristen mit meinem besten Schülerlotsenlächeln an und zeigte ihnen, was für eine ideale, unvoreingenommene Geschworene ich abgeben würde. Flüchtig dachte ich an meinen Job und daran, wie sehr Quynh mich brauchte, aber dann kam ich zu dem edelmütigen Schluss, dass unser Strafrechtssystem und die Verfassung, auf der es beruhte, ein Opfer wert seien.
Als Leo und ich mehrere Fragerunden später als Geschworene neun und zehn auserkoren wurden, war ich deshalb im siebten Himmel, ein Zustand, der sich bei den Zeugenvernehmungen in den nächsten sechs Tagen immer wieder einstellte, allen drastischen Details eines brutalen Teppichmessermordes in Spanish Harlem zum Trotz. Ein zwanzigjähriger Junge war tot, ein anderer stand wegen Mordes vor Gericht, und ich saß da und hoffte, dass die Beweisaufnahme noch sehr lange dauern würde. Ich konnte nicht anders. Ich wollte mehr Zeit an Leos Seite verbringen und Gelegenheit haben, mit ihm zu reden und ihn ein bisschen kennenzulernen. Ich musste herausfinden, ob meine Schwärmerei – ein unzureichender Ausdruck für das, was ich tatsächlich empfand – begründet war. Die ganze Zeit war Leo freundlich, aber unzugänglich. Soweit es möglich war, behielt er seine Kopfhörer auf und beteiligte sich nicht am Small Talk auf dem Flur vor dem Gerichtssaal, wenn die übrigen Geschworenen über alles Mögliche, nur nicht über den Fall sprachen, und zum Lunch ging er immer allein, nicht mit uns in den Deli gegenüber. Wegen seiner Verschlossenheit gefiel er mir nur noch besser.
Und dann eines Morgens, als wir uns zu den Schlussplädoyers auf die Geschworenenbank setzten, drehte er sich zu mir um und sagte: «Jetzt ist es so weit.» Er lächelte, ein offenes, verhaltenes Lächeln – fast, als teilten wir ein Geheimnis. Ich bekam Herzflattern. Und wir hatten tatsächlich auch ein Geheimnis miteinander.
Es begann während der Beratung, als klarwurde, dass Leo und ich die gleiche Meinung vertraten. Kurz gesagt, wir waren beide für einen Freispruch. Der Tötungsakt an sich stand nicht in Frage; der Angeklagte hatte gestanden, und das Geständnis war nicht angefochten worden. Es ging allein um die Frage, ob es sich um Notwehr gehandelt habe. Leo und ich waren dieser Ansicht. Genauer gesagt, wir fanden, es gebe jede Menge angemessener Zweifel daran, dass es keine Notwehr gewesen sei – ein feiner Unterschied, den mindestens ein halbes Dutzend unserer Kollegen in der Jury erschreckenderweise nicht zu begreifen schien. Wir wiesen immer wieder darauf hin, dass der Angeklagte kein Vorstrafenregister hatte (fast ein Wunder in dieser üblen Gegend) und dass er Todesangst vor dem Opfer gehabt habe (einem der brutalsten Bandenführer in Harlem, der den Angeklagten monatelang bedroht hatte – sodass dieser sich schutzsuchend an die Polizei gewandt hatte). Und schließlich hatte der Angeklagte das Teppichmesser wohl deshalb bei sich getragen, weil er bei einer Umzugsfirma arbeitete. Alles das führte uns zu der Überzeugung, dass der Angeklagte in Panik geraten ist, als das Opfer und drei seiner gewalttätigen Freunde ihn in die Enge getrieben hatten, und dass er deshalb blindlings zugestochen habe. Das Szenario erschien uns plausibel – auf jeden Fall plausibel genug für einen begründeten Zweifel.
Nachdem wir drei Tage lang zunehmend entnervt im Kreis geredet hatten, ohne mit den anderen in der Jury auch nur ein kleines Stück weiterzukommen, zogen wir uns alle für die Nacht auf unsere
Weitere Kostenlose Bücher