Maenner fuers Leben
der vielen Dinge, die ich an Stella bewundere: Obwohl sie so großen Wert auf Äußerlichkeiten legt, scheint sie doch wirklich zu wissen, was das Wichtigste ist.
«Entschuldige, Stella», sage ich.
Ihr Vorwurf macht mich verlegen und schuldbewusst, aber er hat auch den merkwürdigen Nebeneffekt, dass ich mich mitten im Schoß der Familie fühle, als wäre ich eins ihrer eigenen Kinder. So behandelt sie mich seit Jahren, aber noch mehr, seit Andy und ich verheiratet sind. Ich muss an das Weihnachtsfest nach unserer Verlobung denken, als sie mich in einem ungestörten Augenblick in die Arme nahm und sagte: «Ich werde nie versuchen, deine Mutter zu ersetzen, aber du sollst wissen, dass du wie eine Tochter für mich bist.»
Was sie da sagte, war genau das Richtige. Stella sagt immer genau das Richtige, und was noch wichtiger ist: Sie meint immer, was sie sagt.
Jetzt schüttelt sie den Kopf und lächelt nachsichtig, aber ich höre nicht auf und stammle eine Erklärung. «Ich bin nur ein bisschen müde. Wir sind ziemlich früh aufgestanden … und dann … all das wunderbare Essen …»
«Natürlich, Liebes.» Stella zupft den gemusterten Seidenschal zurecht, der leicht um ihren Schwanenhals geschlungen ist. Sie ist nicht nachtragend, weder in großen noch in kleinen Dingen, und das ist die einzige Eigenschaft, die sie nicht an ihre Tochter weitergeben konnte. Margot kann einen kleinlichen Groll auf eindrucksvolle Weise jahrelang aufrechterhalten, sehr zu unser aller Erheiterung.
Und mit dieser Feststellung schiebe ich den Gedanken an Leo zum hundertsten Mal an diesem Tag beiseite und konzentriere mich, so gut ich kann, auf unser nächstes Thema, das diesmal Mr. Graham ins Spiel bringt: auf den renovierten Golfplatz im Club. Aber nachdem die vier Männer am Tisch drei Minuten lang über Bogeys und Eagles und Holes-in-One geredet haben, während Margot und ihre Mutter offensichtlich hingerissen zuhören, verliere ich schon wieder den Anschluss und weiß plötzlich, dass ich nicht eine Sekunde länger warten kann. Ich muss herausfinden, was Leo will. Jetzt sofort.
Mit klopfendem Herzen entschuldige ich mich und verziehe mich in das kleine, edle Souvenirgeschäft neben dem Restaurant, wo es zur Damentoilette geht. Ich halte meine Tasche in der schweißfeuchten Hand und sehe mir entsetzt zu, als wäre ich eine dieser idiotischen Frauen in einem Horrorfilm, die spät nachts ein beunruhigendes Geräusch hören und, statt die Polizei anzurufen, nichts Besseres zu tun haben, als barfuß und auf Zehenspitzen in den dichten Wald hinter dem Haus zu schleichen, um nachzusehen. Vielleicht lauert in meinem Fall ja kein Axtmörder, aber auch hier drohen eindeutige und unmittelbare Gefahren. Jeden Moment können Stella oder Margot mich auf frischer Tat ertappen. Oder Andy könnte zum ersten Mal im Leben auf die Idee kommen, einen Blick auf meine Handy-Rechnung zu werfen, wenn sie am Monatsende eintrifft, und wissen wollen, wen ich denn mitten in unserem Familienessen in Atlanta plötzlich so dringend in Queens anrufen musste.
Aber trotz dieser unübersehbaren Risiken stehe ich hier idiotischerweise schon wieder in einer Toilette und überlege hitzig, ob ich Leo anrufen oder ihm nur eine SMS schicken soll. Es kommt mir wie ein moralischer Sieg vor, als ich beschließe, mit zwei flinken und eifrigen Daumen eine hastige Text-Message zu tippen. «Hi. Hab deine Nachricht bekommen. Was gibt’s?», schreibe ich und drücke sofort auf die Sendetaste, ehe ich es mir anders überlegen oder über meine Wortwahl nachdenken kann. Ich schließe die Augen und schüttle den Kopf.
Ich bin erleichtert und zugleich entsetzt über mich selbst. So muss sich ein Alkoholiker fühlen, wenn er den ersten kleinen Schluck Wodka genommen hat, und ein paar Sekunden später wird dieses Gefühl noch stärker, denn mein Handy vibriert, und auf dem Display leuchtet Leos Nummer auf. Ich bleibe vor der Damentoilette stehen und tue so, als bewunderte ich eine Vitrine mit Töpferwaren im Laden. Dann hole ich tief Luft und sage: «Hallo?»
«Hi!», sagt Leo. «Ich bin’s. Hab deine SMS bekommen.»
«Ja.» Ich gehe auf und ab und sehe mich nervös um. Jetzt kann es nicht nur passieren, dass Margot oder ihre Mutter mich erwischen, sondern auch die Männer meiner Familie, die vielleicht ausgerechnet jetzt zur benachbarten Herrentoilette wollen.
«Wie geht’s dir?», fragt Leo.
«Gut», sage ich knapp. «Aber ich kann jetzt nicht reden … Ich bin beim
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