Maenner in Freilandhaltung
Etage führte.
»Weißt du, wo Nina hingefahren ist?«, fragte ich Daniel vorsichtig.
»Nein«, antwortete er schroff und fügte, als er meine leicht pikierte Miene sah, ein wenig freundlicher hinzu: »Aber ich bin sicher, sie wird es uns bald wissen lassen.«
Das klang nicht so, als hätte er Lust, das Thema weiter zu vertiefen. Na schön, für den Moment würde ich es dabei bewenden lassen.
Durch eine weiß lackierte Holztür betraten wir das Wohnzimmer. Wenn ich nicht vorgewarnt gewesen wäre, hätte ich womöglich angenommen, dass die zwei Flaschen Chardonnay immer noch Wirkung zeigten, denn ich sah das gleiche Kind doppelt.
»Hallo!«, brüllten die beiden Jungs, obwohl ich ihnen direkt gegenüberstand, wie aus einem Mund. »Wer bist du denn?«
Langsam begann ich mich daran zu gewöhnen, dass ich bei den Herren dieses Hauses offenbar keinen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Im Gegensatz zu ihrem Vater waren die zwei jedoch entschuldigt. Bei der Hochzeit war das Haus so voll gewesen, dass die Kinder sich unmöglich an jeden einzelnen Gast erinnern konnten. Dafür erinnerte ich mich umso besser an sie.
»Hallo. Ich bin die Schwester von ...«
Von eurer Mama, hatte ich eigentlich sagen wollen, biss mir jedoch im letzten Moment auf die Lippe, als mir klar wurde, dass ich keine Ahnung hatte, wie die Jungs Nina nannten. Sie war schließlich gar nicht die Mutter der Kinder, zumindest nicht die leibliche.
»Das ist eure Tante Lulu«, half Daniel mir netterweise aus der Klemme.
Ich lächelte die Zwillinge an und schickte zeitgleich ein kleines Stoßgebet gen Himmel, in dem ich den lieben Gott um viel Kraft und unbegrenzten Nachschub an Nussschokolade bat. Die Nervennahrung würde ich brauchen, denn wenn mich mein Gefühl nicht täuschte, würde ich mit den zwei Jungs noch viel Spaß bekommen. Rein äußerlich konnte man die beiden Fünfjährigen nicht voneinander unterscheiden: Sie waren gleich groß, hatten die gleiche Strubbelmähne, nach meiner groben Schätzung eine identische Zahl Sommersprossen auf der Nase und zudem allem Anschein nach gleichermaßen viel Schalk im Nacken. Als die Zwillinge auf mein Lächeln mit einem breiten Grinsen antworteten, stellte ich zu meiner Erleichterung fest, dass bei einem der beiden eine Ecke vom rechten oberen Schneidezahn fehlte. Gott sei Dank! Ein Unterscheidungsmerkmal gab es zum Glück.
Ich tippte dem kleinen Jungen mit der abgebrochenen Zahnecke auf die Brust. »Du musst Lukas sein«, sagte ich, während ich angestrengt überlegte, ob man mit fünf Jahren noch seine Milchzähne hat. Keinen blassen Schimmer! Rasch wandte ich mich an Lukas’ Zwillingsbruder: »Und du bist Finn.«
»Och Mann, dieser blöde Zahn«, schmollte Lukas, der genau wie sein Bruder offenbar gehofft hatte, dass ich ihn und Finn verwechseln würde. Nun hatte ich den beiden den Spaß verdorben, und sie zogen lange Gesichter.
»Hey, keine Sorge, ich hab dich nicht an deinem Zahn erkannt«, beruhigte ich Lukas schnell.
Der Kleine legte den Kopf schief. »Nein? Woran denn?« Sein Gesicht hatte sich wieder ein wenig aufgehellt. »Kannst du etwa hellsehen? So wie die böse Hexe aus dem dicken Buch, das Oma uns geschenkt hat?«
»So ähnlich«, flüsterte ich mit verschwörerischer Miene. Einen Moment war ich versucht, die Jungs in dem Glauben zu lassen, dass ich über besondere spirituelle Kräfte verfügte. Sicher würde das den Umgang mit den kleinen Rabauken erheblich erleichtern. Wer hat die Schokolade stibitzt? Gesteht, Tante Lulu könnt ihr nichts vormachen ... Irgendwie hätte es mir gefallen, mit dem allwissenden Nikolaus und dem Weihnachtsmann auf eine Stufe gestellt zu werden. Da ich jedoch von nun an als Vorbild fungieren musste und Ehrlichkeit meiner Meinung nach eine Tugend war, die man von Kindesbeinen an erlernen sollte, entschied ich mich für die Wahrheit. »Aus einer Kristallkugel lesen kann ich nicht, dafür aber den Aufdruck auf euren T-Shirts.« Lukas trug ein hellblaues T-Shirt mit dem Schriftzug »Bruder von Finn«. Finns T-Shirt war konsequenterweise mit dem Aufdruck »Bruder von Lukas« versehen. Ich hoffte inständig, dass die beiden noch ein halbes Dutzend solcher T-Shirts im Schrank liegen hatten, das würde mir die Unterscheidung um einiges leichter machen.
»Scheiß T-Shirts! Die ziehen wir nicht mehr an.«
Okay, das mit den T-Shirts hatte sich wohl erledigt.
»Hey, hey, mein Lieber, du weißt genau, dass man das böse Sch-Wort nicht sagt.«
Überrascht sah
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