Maenner in Freilandhaltung
gekommen. Der Arme war ganz grau im Gesicht. Ich konnte mir ungefähr vorstellen, was in seinem Kopf vorging, und beneidete ihn nicht darum. Heute war es auf den Tag genau fünf Jahre her, dass er Kerstin zum letzten Mal lebend gesehen hatte – bevor sie sich im Streit getrennt hatten und Kerstin tödlich verunglückt war. Ich konnte nichts tun, um ihn von seinen quälenden Gedanken zu befreien, und so drückte ich einfach nur hilflos seine Hand. Obwohl ich Kerstin nicht gekannt hatte und mich jeden Tag aufs Neue über ihre scheußlichen Tonfrösche ärgerte, hatte sogar ich feuchte Augen.
Ich hasste Friedhöfe. Und es fiel mir schwer nachzuvollziehen, warum diese morbide Schrebergartenvariante, in der alle Besucher entweder mit einer Gießkanne oder einer Harke herumzuhantieren schienen, vielen Hinterbliebenen Trost spendete. Aber in dieser Beziehung tickte wohl jeder anders. Ich zum Beispiel hatte nach dem Tod meiner Mutter ihren Lieblingssessel behalten. Immer wenn ich mich dorthineinsetzte, fühlte ich mich ihr besonders nah. In den vergangenen Tagen hatte ich diesen Sessel sehr vermisst, denn ich hatte mich oft gefragt, was mir meine Mutter in meiner jetzigen Situation raten würde.
Meine Augen glitten über den Grabstein und blieben an dem kleinen Kreuz und dem eingemeißelten Datum dahinter hängen. Kerstin war zum Zeitpunkt ihres Todes kaum älter gewesen als ich jetzt. Jette hatte recht: Man hatte nur dieses eine Leben. Carpe diem und all dieses Zeug. Möglicherweise taugte es doch zu mehr als nur zur Kalenderspruchweisheit, mit der man die Küchenwände dekorieren konnte.
Plötzlich waren alle Zweifel wie weggeblasen, und ich wusste ganz genau, was ich zu tun hatte.
»Warum machen denn alle so traurige Gesichter?«, riss mich Finn, der sich nach Erikas Rüffel kaum noch laut zu reden traute, leise wispernd aus meinen Gedanken. »Und warum weint Oma?«
»Sie ist traurig, weil eure Mama nicht mehr bei uns, sondern im Himmel beim lieben Gott ist.«
»Ist es denn da nicht schön? Oder muss Mama dort oben auch so ein kratziges Hemd anziehen wie wir?«
»Nein, nein, im Himmel muss man keine kratzigen Hemden tragen«, beruhigte ich die Kinder. Bloß nicht die Angst vor dem Tod schüren! Das Geld für Frau Meyer-Birkenstocks Therapiestunden konnte man anderweitig bestimmt besser anlegen. »Dort ist es sogar sehr schön«, bekräftigte ich sicherheitshalber noch mal schnell, als ich aus dem Augenwinkel sah, dass sich eine Beerdigungsgesellschaft wie ein schwarzer Tausendfüßler auf uns zubewegte.
Beim Anblick des Sarges, den die Totengräber an uns vorbeitrugen, wurden Finns Augen kugelrund. »Da liegt wirklich einer drin?«
»Klar liegt da einer drin«, antwortete Christopher cool.
»Sieht ziemlich unbequem aus.«
Christopher zeigte seinem kleinen Bruder einen Vogel. »Der merkt das doch gar nicht. Der ist doch tot, du Dummi.«
Finn maß mich mit einem vorwurfsvollen Blick. So als sei es meine Schuld, dass der Verstorbene sich nun die Radieschen von unten ansehen musste. »Wie kann der in der Kiste liegen? Du hast doch gesagt, dass man, wenn man tot ist, beim lieben Gott im Himmel ist.«
Ich versuchte mich zu entsinnen, was der Erziehungsratgeber, den ich neulich vor dem Schlafengehen gelesen hatte, zu diesem Thema Schlaues auf Lager gehabt hatte. Eigentlich hatte ich das Buch nur aus zwei Gründen zur Hand genommen: zum einen, weil mich der Krimi, den ich gerade las, gelangweilt hatte, zum anderen, weil ich mir eine Antwort auf die Frage, wie viele Gummibärchen für die Kinder am Tag okay waren, erhofft hatte. Zwar gab es tatsächlich ein Kapitel zum Thema Ernährung und Essgewohnheiten, aber darin hieß es lediglich lapidar: Süßes in Maßen. Wollte der Verfasser mich veräppeln?
Trotz dieser schwammigen Auskunft stellte ich nun fest, dass der Ratgeber jeden Cent wert war. Auch wenn er die Gummibärchen-Frage nicht zufriedenstellend gelöst hatte, so machte er das beim Thema Tod wieder wett. Ich versuchte mich an die sehr schöne und bildhafte Beschreibung des Autors zu erinnern und gab sie mit meinen eigenen Worten wieder.
»Das, was dort in dem Sarg liegt, ist nur die Hülle eines Menschen. Die Seele steigt auf in den Himmel. Du erinnerst dich doch bestimmt an das Buch von der kleinen Raupe Nimmersatt, das wir neulich gelesen haben, und daran, wie die Raupe sich eingesponnen hat. Der Kokon ist so etwas wie die menschliche Hülle, also der Körper des Menschen. Und daraus entschlüpft ein
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