Männer schweigen: Ein Sylt-Krimi
Wirtschaft, aber wer kennt die schon wirklich? Politiker sind fast nie dabei. Für die ist das wahrscheinlich zu riskant. Ausnahmen bestätigen die Regel.«
Gerade will Judith sich auf die freie Bank fallen lassen, als Silja ausruft: »Stopp. Warte mal.« Sie geht in die Knie und mustert einen Rollkoffer, der zwischen der Sitzfläche der Bank und dem Betonboden steckt. »Das ist ja komisch …«
»Warum denn? Da hat jemand seinen Koffer schon mal zum Bahnsteig gebracht und ist sich vielleicht noch einen Kaffee holen gegangen. Wenn er oder sie zurückkommt und sich setzen will, können wir ja immer noch Platz machen.«
»Das meine ich nicht.«
Silja zieht ihr T-Shirt aus der Hose und wickelt sich den Saum um einen Finger. Vorsichtig streicht sie über den Koffergriff.
»Guck mal, da ist jede Menge Staub auf dem Griff.«
»Ja und?«
»Der Koffer liegt nicht erst seit ein paar Minuten hier. Bestimmt braucht es ein oder zwei Tage, damit sich der ganze Dreck hier ansammelt. Das ist doch merkwürdig, findest du nicht?«
»Aber wer vergisst denn einen Koffer auf dem Bahnsteig?«
»Eben. Da stimmt was nicht.«
Vorsichtig bugsiert Silja den Koffer aus dem Schatten der Bank. Am seitlichen Tragegriff hängt ein ledernes Etui für Visitenkarten. Silja dreht das Sichtfenster nach oben.
»Seltsam, das ist leer.«
»Was bitte soll daran seltsam sein?« Judiths Frage geht fast in dem Kreischen und Bremsen des einfahrenden Zuges unter.
»Normalerweise tut man in dieses Etui einen Zettel mit Namen und Anschrift, und dann bleibt er da auch.« Während sie spricht, greift Silja nach Judiths Reisetasche und dreht deren Adressanhänger nach oben. »Schau, du machst es doch auch so.«
»Stimmt.« Bedauernd fügt Judith an: »Mensch, jetzt könnte ich dich einmal mitten in einer kriminalistischen Aktion erleben und muss ausgerechnet weg.«
»Na, so aufregend wird’s schon nicht sein. Ich werde das Ding zum Fundbüro rollen und damit hat sich’s«, wiegelt Silja ab. »Mach’s gut, du Liebe! Ich vermisse dich jetzt schon. Bist du nicht vielleicht bald mal wieder beruflich hier und könntest dich heimlich wegstehlen?«
»Nee, da komme ich dich schon lieber ganz offiziell besuchen. Aber vorher sehen wir uns am Dienstag im Seminar, oder?«
»Auf jeden Fall. Komm gut heim und grüß mir Hamburg.«
Silja umarmt die Freundin fest.
»Mach ich. Und viel Spaß noch mit dem Koffer.«
Judith winkt ein letztes Mal, dann verschwindet sie im Inneren des Zuges. Silja versucht noch eine Zeitlang, die Freundin in dem Gewusel der Reisenden auf dem Gang wiederzuerkennen, aber vergeblich. Schließlich wendet sie sich ab, um sich um den verlorenen Koffer zu kümmern. Zuerst denkt sie, sie habe sich in der Bank geirrt, aber ein kurzer Blick sagt ihr, dass das nicht stimmt. Sie steht genau vor der Bank, an der sie sich von Judith verabschiedet hat. Alles ist wie vorher – nur der Koffer ist weg.
Schnell sieht sich Silja um, doch auf dem Bahnsteig ist niemand mehr.
Es gibt nur eine Erklärung für diese mysteriöse Geschichte: Der Kofferdieb ist auch in den Zug gestiegen und reist jetzt mit Judith nach Hamburg. Schon hat Silja ihr Handy gezückt, um die Freundin anzurufen, doch sie überlegt es sich anders. Ist es nicht am wahrscheinlichsten, dass jemand seinen Koffer vergessen hat und nun zurückgekommen ist, um ihn zu holen? Oder der Koffer war tatsächlich nur für wenige Minuten hier geparkt und ist schon vorher in irgendeinem Keller eingestaubt. Es soll ja durchaus Menschen geben, die geringere hygienische Ansprüche haben als sie selbst. Silja muss fast über ihr eigenes Misstrauen lachen. Sie darf auf keinen Fall vergessen, Judith bei ihrer nächsten Begegnung den Ausgang der Koffergeschichte zu erzählen.
Mit federnden Schritten verlässt die Kommissarin den Bahnsteig.
Sonntag, 19. Juni, 16.10 Uhr,
Braderuper Weg, Kampen
Der Wind fährt sanft in die Wildrosenhecke, zaust die Blüten und wirbelt einzelne Blätter durch die Luft, als seien sie spielende Elfenkinder. Am Ende ihres Tanzes landen die Blütenblätter im niedrig gemähten Gras und bilden ein rosafarbenes Tupfenmuster auf sattem Grün unter strahlender Sonne. Nachdenklich lässt Sven Winterberg den Blick über Rasen und Hecke seines Grundstücks schweifen. Er lebt mit Frau und Tochter in dem ehemaligen Haus der Schwiegereltern im Kampener Süden. Und seit einer halben Stunde sitzt er mit dem Kollegen Kreuzer auf der Terrasse bei Ostfriesentee und Bürgermeister.
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