Männer und der ganz normale Wahnsinn
noch zu sehen, mit ihren verkrusteten, zerrissenen Kleidern und den Einkaufswagen, in denen sich Taschen stapeln mit allem, was sie aus den Mülleimern einsammeln können.
Ich muss zugeben, dass ich mich wie die meisten New Yorker unwohl fühle, wenn ich sie sehe, in erster Linie weil ich gar nicht weiß, wie ich auf ihre Not reagieren soll. Ich ignoriere sie genauso wie die anderen, schaue weg, als ob das Problem, wenn ich es nicht sehe, nicht existieren würde. Jedenfalls nicht für mich.
Ich weiß, dass die meisten von ihnen gar nicht verantwortlich sind für ihre Situation. Wer würde schließlich freiwillig auf der Straße leben? Viele sind seelisch gestört, unfähig, in einer Stadt zu überleben, in der Fähigkeiten verlangt werden, die sie noch nicht einmal begreifen können, geschweige denn erlernen. Andere sind so oft vom Leben besiegt worden, über so viele Jahre hinweg, dass sie keine Ahnung haben, wie sie es auch nur anfangen sollen, ihre Notlage zu bekämpfen. Ich habe Mitleid mit ihnen. Aber einfach nicht genug, um meine Trägheit zu überwinden. Oder meine Schuldgefühle.
Ich dachte immer, der Winter wäre die schlimmste Zeit für Obdachlose. Der Wind, der zwischen den Flüssen durch die Stadt fegt, kann grausam sein und die Adern eines Menschen sofort vereisen. Doch heute, als die Hitze vom Zementboden abstrahlt, als die Feuchtigkeit mich fast ersticken lässt, bin ich mir nicht sicher, ob der Sommer viel besser ist.
Vermutlich denke ich über all dies nach, weil sich einer dieser Männer mir nähert, als ich mit sechs oder sieben anderen Leuten unter einem Plexiglasdach auf der 96. Straße Ecke Broadway auf den Bus warte. Ich beobachte so unauffällig wie möglich, wie alle ihm vorsichtig aus dem Weg gehen, sich abwenden, sich in ihre Handy-Telefonate vertiefen oder in ihre Zeitungsartikel, in ihre eigenen sauberen, hübschen Leben.
Das Bedürfnis, es ihnen nachzumachen, ist so stark, dass ich fast aufschreie, weil ich mich so vor meiner eigenen Reaktion ekle. Doch der Mann stinkt derart, dass ich unwillkürlich zurückschrecke. Wie fast immer trage ich meine Tasche mit dem Riemen quer über der Brust, um potenzielle Taschendiebe abzuschrecken. Trotzdem presse ich die Tasche instinktiv fester an meinen Körper.
Die gehört mir, sagt diese Geste, und ich schäme mich dafür.
Ich bin jetzt die Einzige, die noch unter dem Dach steht, aber Dutzende Menschen überqueren die Kreuzung wie lethargische Ameisen. Die anderen Wartenden, zweifellos erleichtert, dass ich jetzt die Zielscheibe bin und sie wieder befreiter atmen können, stehen ein paar Meter entfernt auf dem Bürgersteig oder vor den Schaufenstern, noch immer nah genug, um den Bus nicht zu verpassen, wenn er kommt.
Der Mann schleicht sich näher heran und zwingt mich dadurch, ihn anzusehen. Er ist schmutzig und unrasiert, sein Rücken gebeugt. Fast schwarze Zehen schauen aus den Schlitzen seiner Turnschuhe heraus, die nur einen Hauch heller sind und mindestens zwei Nummern zu groß. Ich kann nicht sagen, wie alt er ist, aber unter seiner mottenzerfressenen Kleidung kann ich ahnen, wie dürr er ist.
Er streckt seine Hand aus. Sie zittert. Vor Hitze, Hunger, Drogen …? Ich habe keine Ahnung. Aber ich kann seine Verlegenheit spüren.
Nedra hätte ihre Geldbörse über seiner geöffneten Hand ausgeleert, das weiß ich, und zwar, ohne eine Sekunde zu zögern. Aber meine Mutter ist auch verrückt.
Ich schaue mit trockenem Mund weg, dann wieder hin.
„Haben Sie Hunger?“ frage ich, die Worte kratzen in meinem Hals. Ich bemerke, wie eine gutgekleidete Asiatin sich ein wenig in unsere Richtung dreht. Aber ich kann nur ahnen, dass sie die Stirn runzelt und den Kopf schüttelt, denn mein Blick klebt an seinen grauen Augen. Ich sehe, wie Hoffnung in ihnen aufkeimt, zusammen mit einem Lächeln. Er nickt.
Der vernünftige Teil von mir denkt, ich sollte ihn in ein billiges Restaurant einladen und ihm etwas bestellen. Denn wenn ich ihm einfach Geld gebe, was wird er sich davon wohl kaufen?
Und dann denke ich, wer bin ich, dass ich das Recht hätte, das zu verurteilen?
Doch bevor ich noch einen Entschluss fassen kann, erscheint ein Polizist und scheucht den protestierenden Mann weg, gleichzeitig kommt mein Bus. Ich steige hinter der missbilligenden Asiatin ein, die mich, als wir uns einander gegenübersetzen, fragt, ob ich Angst gehabt hätte. Ich antworte mit Nein.
Der Bus ist klimatisiert und fast leer, ich spüre, wie die Anspannung, die
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