Männer und der ganz normale Wahnsinn
seinen Augen liegen dunkle Ringe. „Ich bin nicht befugt, dir das zu sagen.“
Aus irgendeinem Grund ärgert mich das. Also befestige ich eine der vielen Strähnen, die sich wie Schlangen aus meinem geflochtenen Zopf herauswinden, hinter dem Ohr und sage: „Ich habe das Blut gesehen, Nick. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass er von einer tollwütigen Taube zu Tode gepickt wurde.“
Schon wieder schaut er mich so komisch an. „Tauben bekommen keine Tollwut. Und außerdem vermutest du nur, dass es sich um Blut handelt.“
Ich gebe ihm einen ebenso merkwürdigen Blick zurück. Er seufzt und sagt: „Er wurde erschossen.“
Ich zucke zusammen. Ich stehe nicht besonders auf Waffen. Vor allem, wenn sie bei Leuten angewandt werden, die ich kenne. Ich nehme noch einen Schluck Kaffee. „Wann?“ frage ich leise.
„Sehr früh heute Morgen.“
Ich schaue auf. „Gibt es Augenzeugen?“
„Nein.“
„Der Mann wurde mitten auf der 78. Straße erschossen, und niemand hat es gesehen?“
„Wieder nur eine Vermutung. Wir haben ihn auf der 78. Straße gefunden. Das heißt nicht zwangsläufig, dass er auch hier erschossen wurde.“
„Oh“, entgegne ich und runzle dann vor lauter Konzentration die Stirn, was mir einen weiteren tiefen Seufzer von Nick beschert.
„Was?“
„Bitte sag jetzt nicht, dass du schon immer davon geträumt hast, einmal Hobby-Detektivin zu spielen.“
„Keine Bange. Ich lese nicht mal gerne Krimis.“ Er sieht erleichtert aus, zumindest bis ich frage: „Ich schätze, du hast keine Ahnung, wer es war?“
Nick schüttelt den Kopf und massiert sich den Nacken. „Nee. Und das heißt, wir müssen eine Menge Leute befragen. Wir fangen mit denen an, die für ihn gearbeitet haben.“ „Heute?“
„Natürlich heute. Was glaubst du denn?“
Ich schüttle den Kopf. „Tut mir Leid, aber ich habe meinen ersten Termin um zehn, und das geht dann den ganzen Tag gerade so weiter …“
„Ginger“, unterbricht mich Nick geduldig. „Dein Chef ist tot. Vertrau mir, niemand von euch wird heute rumdekorieren …“
„Entwerfen“, zische ich durch die Zähne.
„Wie auch immer, heute …“
Doch bevor wir noch das Gespräch fortführen können, ruft ein anderer Polizist Nick zu sich, und ich bleibe mit einem unangenehmen Gefühl der Vorahnung zurück.
Menschen stehen herum und wirken eher verärgert als betroffen. Jetzt seufze ich selbst einmal ganz tief, hole ein Taschentuch aus meiner Tasche, breite es auf der Eingangstreppe des Nachbarhauses aus und platziere meinen leinenbedeckten Hintern darauf. Schweiß läuft mir den Nacken hinab.
Mein armes kleines Hirn dreht fast durch. Das ist es, was Leichen bei mir bewirken. Vor allem Leichen, die mir einmal geholfen haben, auch wenn ich sie nicht leiden konnte. Brice Fanning war vielleicht ein brillanter Designer, aber er machte seine Mitarbeiter wahnsinnig. Nie zuvor habe ich einen weinerlicheren oder pingeligeren Menschen als ihn kennen gelernt. Nie jemanden, der weniger willens war, seinen Mitarbeitern ein wenig Respekt oder Anerkennung zu schenken. Die einzigen zwei Gründe, warum die meisten von uns es mit ihm ausgehalten haben, waren die Bezahlung und sein guter Ruf. Aber ich kann schon jetzt mit Sicherheit behaupten, dass niemand ihn vermissen wird, sobald der erste Schock sich einmal gelegt hat.
Weil mein Hirn sowieso überfordert ist und ich immer schon eine ausgeprägte Fantasie hatte, überlege ich, was wäre, wenn Brice nicht aus persönlichen Gründen umgebracht worden war. Was, wenn irgendein Wahnsinniger einfach herumrennt und es auf Innenarchitekten abgesehen hat? Eine Kundin vielleicht, die mit der Farbe ihrer Wände nicht zufrieden war? Oder einer, der Probleme mit Schwulen hat? Ein Architekt?
Vielleicht hat sein Mörder ihn sogar noch zufälliger ausgewählt. Womöglich hat ihn jemand wegen seiner Rolex oder so umgenietet?
Carole Dennison, Brices Topdesignerin, gesellt sich zu mir, allerdings setzt sie sich aus Rücksicht auf ihr Chanel-Kostüm nicht hin. Sie muss in dieser Jacke vor Hitze fast eingehen. Sie kramt in ihrer Louis-Vuitton-Handtasche nach einer Zigarette und zündet sie an.
„Toller Wochenanfang, was?“
„Aber vielleicht regnet es ja später noch“, antworte ich. „Dann könnte es etwas kühler werden.“
Durch den Klang ihres heiseren Reibeisen-Lachens geht es mir wie immer gleich besser. Carole arbeitet seit etwa hundert Jahren für Brice, obwohl sie bei schlechter Beleuchtung und mit dickem
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