Männerstation
und weil Sie getrunken haben, konnten Sie nicht schnell genug reagieren, das wollen wir ganz klar sagen.« Beißelmanns Stimme war merkwürdig klar. In den anderen Betten hielten sie buchstäblich den Atem an. Nur Ambrosius murmelte erschrocken: »Der nimmt den jetzt völlig auseinander.«
»Ich … ich …«, stammelte Sencker. Beißelmann legte seine große Hand auf die Brust des Verunglückten. Und es war merkwürdig … Sencker empfand es nicht als lastenden Druck, sondern es war ihm, als ziehe ein Teil seiner Schmerzen durch diese Hand aus seinem Körper und gleite zu dem Krankenpfleger. Verwundert starrte er ihn an.
»Man kann nur weiterleben, wenn man mit sich selbst völlig klar ist«, sagte Beißelmann. »Wer sich immer selbst belügt, lebt umsonst. Am Ende weiß er gar nicht, warum er gelebt hat. Es ist gut, wenn Sie alles so sehen, wie es in Wahrheit ist. Sie haben Ihr Kind umgefahren, weil Sie betrunken waren … ein anderer hat seinen Chef um Geld betrogen … ein dritter hat einen umgebracht, weil er betrogen wurde … wieder ein anderer ist durch und durch ein Lump.«
»Gute Menschen gibt's wohl nicht bei Beißelmann«, sagte Staffner in die lastende Stille hinein.
»Nein.« Die Antwort war laut.
»Und ich?« rief Staffner.
»Sie sind ein Blinder.«
»Wie bitte?« Staffner ruckte sich im Bett hoch. Sein Amputationsstumpf juckte fürchterlich. Die Nerven, dachte er. Da haben wir's. Immer, wenn ich mich aufrege, juckt's. Bei Dormagen drückt der Magen, bei Seußer gibt's den berühmten Schluckauf – wir sind alle mit den Nerven völlig runter. »Erklären Sie mir bitte …«
»Wenn Sie eines Tages aufwachen, werden Sie an mich denken.« Beißelmann kümmerte sich nicht um den Protest, den Staffner daraufhin anstimmte. Er beugte sich wieder über den still gewordenen Sencker.
»Sehen Sie«, sagte er etwas leiser. »Man muß das über sich wissen. Es ist eine Last, aber wenn man sie bewußt trägt, ist sie leichter, als wenn man sie heimlich herumschleppt. Falls man ehrlich gegen sich selbst ist, hat man einen guten Grund zu leben: Man hat etwas gutzumachen in dieser Zeit, in der man lebt, und das ist eine gute Aufgabe.«
»Und meine Frau?« Sencker sah Beißelmann bettelnd an. »Sie haben sie gehört! Meine Frau wird mich …«
»Ich werde mit ihr sprechen.« Beißelmann nahm die Hand von Senckers Brust. Aber die Schmerzen kamen nicht wieder, auch nicht die Verzweiflung; es war, als wenn die große Hand alles Leid magnetisch in sich hineingezogen hätte. »Wenn Sie zu Ihnen kommt, wird alles anders sein. Glauben Sie mir!«
Und Peter-Paul Sencker umklammerte mit seiner gesunden Hand den Arm Beißelmanns und sagte ohne Zittern in der Stimme: »Ich glaube Ihnen …«
*
Nach dem Mittagessen zog Beißelmann seinen weißen Kittel aus, band sich eine Krawatte um und kämmte sich gründlich. Als er danach wieder auf den Gang hinaustrat, sah er wie ein Tennisspieler aus, weiße Hose, weiße Schuhe, weißes Hemd. Schwester Angela schimpfte gerade in der Teeküche mit einem Küchenmädchen, weil es Lukas Ambrosius, der bereits beste Kontakte zu allen Stationshelferinnen unterhielt, zwei Portionen Pudding zum Nachtisch gebracht hatte.
»Es ist völlig gleichgültig«, rief Schwester Angela, »ob das der Pudding von Zimmer 3 ist, wo einer keinen Pudding essen darf. Herrn Ambrosius steht eine Portion zu … mehr nicht.«
»Aber die nicht gegessenen Puddings werden doch weggeworfen in den Schweineeimer«, verteidigte sich das Mädchen. »Warum soll dann nicht …?«
»Auch das geht Sie nichts an, Erna. Sie haben zu tun, was man Ihnen sagt. Und wenn zehn Puddings nicht gegessen werden, so gehen zehn Puddings auch wieder zurück …« In diesem Augenblick sah sie Beißelmann in der Tür stehen. Wie immer hatte man ihn nicht gehört, und wie immer schrak Schwester Angela leicht zusammen, als sie die riesige Gestalt hinter sich stehen sah.
»Mein Gott«, rief sie, »klopfen Sie doch wenigstens an, oder husten Sie, oder machen Sie irgend etwas; aber so herumzuschleichen wie ein Geist …« Dann bemerkte sie den fremden Aufzug Beißelmanns und musterte ihn erstaunt. Der Krankenpfleger nickte.
»Ich gehe aus …«
»Wie bitte?«
»Ich gehe in die Stadt. Ich habe eine Stunde frei. Es steht im Angestelltenvertrag: Nach dem Mittagessen hat das Pflegepersonal eine Freistunde.«
»Auf der Station.«
»Das steht nicht drin.«
»Aber es ist so üblich.«
»Ihr habt es so üblich gemacht.«
»Es ist doch
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