Männerstation
selbstverständlich, daß …« Schwester Angela war es unangenehm, dieses Gespräch in Gegenwart des Küchenmädchens führen zu müssen. Aber sie sah keine Möglichkeit, unter vier Augen mit Beißelmann zu sein. Der Krankenpfleger steckte die Hände in die Taschen der weißen Leinenhose.
»Es ist selbstverständlich, daß Ihre Schwestern zehn Stunden am Tag arbeiten, dazu noch Nachtwachen, Bereitschaftsdienst, Fortbildungskurse, Unfallhilfe bei einem Lohn, der soviel ist wie ein abgenagter Knochen, den man einem struppigen Hofhund hinwirft. Als Gegengabe aber verlangt ihr Idealismus, Nächstenliebe, tätiges Christentum und Selbstaufopferung. Und welche Rechte gebt ihr uns?«
»Was ist denn mit Ihnen los, Herr Beißelmann?« Schwester Angela drückte ihre Hände flach gegen ihre Schürze. »Weiß Doktor Bernfeld, daß Sie ausgehen?«
»Nein. Er ist zum Essen. Aber Sie sagen es ihm …«
»Ich werde sagen, daß Sie ohne Erlaubnis …«
Beißelmann sah die erregte Schwester an, als betrachte er einen kreischenden Truthahn. »Ich werde mir jede freie Stunde nehmen, die mir zusteht«, sagte er laut. »Wenn ich sie nachhole, werden es bald sechs Wochen sein … Aber so ist der Beißelmann gar nicht. Ich will nur ab jetzt, ab sofort mein Recht.«
Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verließ die Teeküche. Schwester Angela atmete heftig und zupfte nervös an ihrer Haube. Dann wandte sie sich wieder dem Küchenmädchen zu, das leicht lächelnd am Fenster stand.
»Sie amüsieren sich wohl, was?« rief Schwester Angela. »Erst veruntreuen Sie Puddings, und dann gebärden Sie sich frech. Sie werden sich nachher bei Oberarzt Dr. Pflüger melden … ich dulde keinen Ungehorsam auf meiner Station.«
Beißelmann hörte nur noch die ersten Worte auf dem Flur. Er blieb stehen, unschlüssig, ob er zurückgehen sollte, um dem Mädchen zu helfen, aber dann sah er auf die große Uhr im Gang und auf den großen Sekundenzeiger, der sich unaufhaltsam drehte und demonstrierte, wie wenig eine Zeitspanne ist. Da lief er schneller die Treppe hinunter, an der sprachlosen Pfortenschwester vorbei, hinaus zur Auffahrt und stand wenig später draußen auf der Straße. Die Sonne brannte aus einem wolkenlosen Himmel, der Asphalt weichte auf und war wie Pudding, die Auspuffgase der Autos verflogen nicht in der Windstille, sondern krochen als blaßblaue Wolken über die Gehsteige und gegen die Hauswände.
Beißelmann wischte sich über die breite Stirn. Ein paar Fußgänger stießen ihn an, weil er mitten im Weg stand; er achtete nicht darauf. Für ihn war es ein Erlebnis, plötzlich frei zu sein. Zehn Jahre Gefängnis … dann das Krankenhaus, in dem er sich freiwillig eine Zelle eingerichtet hatte … und nun stand er hier in der Sonne und konnte hingehen, wohin er wollte … heute eine Stunde … morgen eine Stunde … jeden Tag eine Stunde … und heute abend sogar eine ganze Nacht. Eine Nacht bei Evelyn Frerich …
Mit weiten Schritten rannte er zur Straßenbahnhaltestelle und fuhr in die Stadt. Die Kaufhäuser schlossen über Mittag nicht, so ging er in das größte Kaufhaus und fuhr mit der Rolltreppe hinauf zur Herrenabteilung. Dort kaufte er sich einen Sommeranzug, zwei Hemden, eine Krawatte, hellgraue Socken und hellbraune Schuhe. Einen Hut, den man ihm außerdem verkaufen wollte, wies er ab. Er hatte nie einen Hut getragen, er liebte es, einen freien Kopf und eine besonnte Stirn zu haben und den Himmel über sich zu spüren.
Als er sich im Spiegel sah, brauchte er eine Zeit, sich an diesen Anblick zu gewöhnen. Er dachte zwölf Jahre zurück, bevor sich hinter ihm die eisernen Tore des Zuchthauses schlossen. Kurz vor dem ›Unglück‹ hatte er sich noch einen Maßanzug machen lassen; er trug ihn nur einmal, als er ihn abholte – und in ihm erwürgte er seine Frau und ihren Liebhaber. Als er entlassen wurde, hatte er als erstes diesen Anzug verbrannt, unten im Heizraum des Krankenhauses, in dem Koksausweichkessel, der neben der automatischen Ölheizung stand. Im Labor I verwunderte man sich eine halbe Stunde lang, wieso aus der Kaltwasserleitung plötzlich warmes Wasser lief. Aber bevor man der Sache nachging, war es schon vorbei und das Wasser wieder kalt.
Beißelmann ließ seine ›Tenniskleidung‹, wie der Verkäufer ahnungslos die Krankenpflegerkleidung bezeichnete, einpacken und fuhr in seinem neuen Anzug zum Krankenhaus zurück. Vorher kaufte er noch eine Schachtel Pralinen und einen Strauß
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