Männerstation
Frau Sencker restlos verwirrte.
»Hat es gut getan?« fragte Beißelmann.
»Was, Herr Doktor?«
»Das Schreien.«
»Ja …«
»Dann war es nützlich und mußte so sein. Aber nennen sie mich nicht ›Herr Doktor‹; ich bin Paul Beißelmann.«
»Ach so.« Sie sah wieder auf die weißen Schuhe. Ein einfacher Krankenpfleger kann er nicht sein, dachte sie. Sonst dürfte er keine weißen Arztschuhe tragen. Vielleicht ist er Oberpfleger; man kennt sich da nicht so aus. Sie nickte, nur um etwas zu tun, und sah Beißelmann aus ihren verquollenen Augen an. »Sie wollten mit mir sprechen?«
»Ja.« Beißelmann senkte den Kopf. Er stand vor Frau Sencker wie ein weißer Turm, und seine Stimme wehte über sie hinweg wie ein Herbstwind über einen vergessenen Roggenhalm. »Ihr Mann weiß, daß er schuld hat.«
»Schuld …« Frau Sencker hob die Schultern. »Monika hat sich von meiner Hand losgerissen und ist ihm entgegengerannt, als sie den Wagen erkannte. Ich … ich hätte sie fester halten müssen …«
»Das stimmt«, sagte Beißelmann dumpf. »Man hält ein Kind richtig fest.«
»Und er konnte ja gar nicht so schnell bremsen, wie er sie auf sich zulaufen sah.«
»Weil er betrunken war …«
»So betrunken war er gar nicht!«
»1,00 Promille – das genügt.«
»Sagt die Polizei das? Wird er angeklagt?«
»Bestimmt.«
Frau Sencker begann wieder zu weinen. Die vergangene Nacht war furchtbar gewesen. So sehr sie nach dem Unfall bis zum Morgen getobt hatte, irrsinnig vor Schmerz und bereit, ihren Mann in diesem Zustand völliger seelischer Auflösung zu erschlagen, so deprimiert war sie, als die Staatsanwaltschaft nach völliger Klärung des Sachverhaltes die Leiche der kleinen Monika freigab und der über der Brust zusammengequetschte kleine Körper in die Senckersche Wohnung gebracht wurde, in einem weißen Sarg, ausgelegt mit Rosenblüten und Gladiolen. Sie hatte die ganze Nacht über an dem Sarg gesessen, neben sich ihre Schwester und ihren Schwager, einen Arzt, der sich dafür verbürgte, daß keine neue Tragödie entstand.
In dieser Nacht erkannte sie, daß Peter-Paul Sencker genau wie sie zerbrochen sein mußte, als er die Wahrheit erfahren hatte, und daß es fernerhin ein Leben geben würde, entweder gemeinsam, mit zusammengebissenen Zähnen, oder getrennt als sichtbares Zeichen des Nichtvergessens. Beides war schwer, denn es galt, auf irgendeine Weise mit einem Schicksal fertig zu werden, das keiner von ihnen mehr verstand.
»Wird er verurteilt werden?«
»Ja«, sagte Beißelmann ungerührt.
»Gefängnis?«
»Sicherlich.«
»Dann ist mein Mann ruiniert …«
Beißelmann schwieg. Es war die Grenze, an die er Frau Sencker haben wollte. Es war das Erkennen, daß die Lawine von Strafe, die über Peter-Paul Sencker hereinbrechen würde, nicht noch sinnlos vermehrt werden sollte durch die Anklagen seiner Frau, die schreiende Worte waren und das Herz bluten ließen, während die reale Strafe des Gesetzes den Boden unter dem Handelsvertreter Sencker wegzog und er in den Abgrund stürzte.
»Weiß er das alles?« fragte sie stockend.
»Ja.«
»Und … und was sagt er?«
»Er wollte nicht mehr weiterleben.«
»Um Gottes willen!« Es war ein Aufschrei, und Beißelmann tat es wohl, ihn zu hören. »Das müssen Sie verhindern! Sie müssen ihn immer überwachen, dürfen ihn nie allein lassen … Ich kenne meinen Mann. Wenn er es sich in den Kopf gesetzt hat …«
»Ich kann gar nichts tun.« Beißelmann steckte die riesigen Hände in die Manteltasche. »Nur Sie können etwas tun.«
»Ich?« Frau Senckers Blick war flehend, als bettle sie um ein Leben. Ihr Taschentuch vor dem Mund zitterte.
»Sie müssen ihm beweisen, daß sein Leben weitergeht. Sein Leben und Ihr Leben. Trotz seiner Schuld, die er nicht abtragen kann.« Beißelmann trat auf Frau Sencker zu und legte ihr die Hand auf die Schulter. Auch sie spürte den Druck nicht, obschon diese Hand ein großes Gewicht haben mußte. Aber das täuschte; Beißelmann berührte kaum die Schulter der Frau, es war eine schwerelose Berührung, die man zwar wahrnahm, die aber nicht drückte. »Kommen Sie«, sagte er heiser. »Er wartet auf Sie …«
An der Tür blieb Frau Sencker stehen. »Wie … wie sieht er aus?« fragte sie ängstlich. »Er ist mit dem Kopf durch die Scheibe … Ist er … ist er …?«
»Sie werden ihn wiedererkennen. Es sah erst schlimmer aus, auch mit dem Schädelbruch, aber er hat großes Glück gehabt.«
»Glück …« Sie sprach das
Weitere Kostenlose Bücher