Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
auch hingehen lassen. Nur Molo soll mir’s büßen.«
Dann befahl er hundert gewappneten Kriegern, mit Bogen und Schwertern das Haus des Jünglings zu umstellen und unter allen Umständen des Molo habhaft zu werden. Molo nahm seinen Dolch und flog die hohe Mauer empor. Er blickte um sich wie ein Falke. Die Pfeile kamen dicht wie Regen; aber keiner traf ihn. In einem Augenblick war er verschwunden, kein Mensch wußte wohin.
Nach mehr als zehn Jahren traf ihn einer der Leute seines Herrn im Süden, wie er Medizin verkaufte. Er sah noch immer aus wie früher.
89. Die goldene Büchse
Zur Tang-Zeit lebte ein Graf im Lager von Ludschou. Der hatte eine Sklavin, die konnte sehr gut die Laute spielen und war auch im Lesen und Schreiben geübt, so dass der Graf sie gebrauchte, um seine geheimen Briefe zu schreiben. Einst war im Lager ein großes Fest. Die Sklavin sprach: ,,Die große Pauke klingt heute so traurig; dem Mann ist sicher ein Unglück begegnet.« Der Graf ließ den Paukenschläger kommen und fragte ihn. »Meine Frau ist gestorben,« erwiderte jener, »doch wagte ich nicht, um Urlaub zu bitten; darum klang unwillkürlich meine Pauke so traurig.«
Der Graf ließ ihn nach Hause.
Zu jener Zeit herrschte viel Streit und Eifersucht zwischen den Grafen am gelben Fluss. Der Kaiser wollte dadurch Frieden schaffen, dass er die Grafen untereinander Familienverbindungen eingehen ließ. So hatte die Tochter des Grafen von Ludschou den Sohn des Grafen von Webo geheiratet. Aber es half nicht viel. Der alte Graf von Webo war lungenleidend, und immer in der heißen Zeit wurde es schlimmer, und er pflegte zu sagen: »Ja, wenn ich Ludschou hätte! Dort ist es kühler, da würde mir vielleicht wohler.«
So sammelte er denn dreitausend Krieger um sich, gab ihnen reichlichen Sold, befragte das Orakel um einen glückbringenden Tag und machte sich daran, Ludschou mit Gewalt zu besetzen.
Der Graf von Ludschou hörte davon. Tag und Nacht war er in Sorgen, doch fiel ihm kein Ausweg ein. Eines Nachts, als die Wasseruhr schon aufgestellt war und das Lagertor geschlossen, ging er, auf seinen Stab gestützt, im Hof umher. Nur seine Sklavin folgte ihm.
»Herr,« sprach sie, »seit einem Monat flieht Euch Schlaf und Esslust. Einsam und traurig lebt Ihr in Eurem Leid. Ich müsste mich täuschen, wenn es nicht Webos wegen wäre.«
»Das geht auf Leben und Tod«, sprach der Graf. »Davon versteht ihr Frauen nichts.«
»Ich bin nur eine geringe Magd«, sagte die Sklavin, »und dennoch habe ich Eures Kummers Grund erraten.«
Der Graf erkannte, dass Sinn in ihren Worten war, und sprach: »Du bist ein außerordentliches Mädchen. Tatsächlich überlege ich mir im Stillen einen Ausweg.«
Die Sklavin sprach: »Das ist leicht zu machen. Ihr braucht Euch nicht darum zu kümmern, Herr! Ich will nach Webo gehen und sehen, wie es steht. Jetzt ist die erste Nachtwache. Wenn ich jetzt gehe, so kann ich zur fünften Nachtwache wieder zurück sein.«
»Wenn es dir nicht gelingt,« sprach der Graf, »beschleunigst du mein Unglück.«
»Ein Mißerfolg ist gar nicht möglich«, antwortete die Sklavin.
Dann ging sie in ihr Zimmer und rüstete sich für die Reise. Sie kämmte ihr Rabenhaar, band es in einen Knoten auf dem Scheitel und steckte es mit einer goldenen Nadel fest. Dann zog sie ein purpurgesticktes, kurzes Gewand an und gewobene Schuhe aus dunkler Seide. Im Busen barg sie einen Dolch mit Drachenlinien, und an die Stirne schrieb sie sich den Namen des großen Gottes. Dann verneigte sie sich vor dem Grafen und verschwand.
Der Graf goß sich Wein ein, um auf sie zu warten, und als das Morgenhorn erschallte, da senkte sich leicht wie ein schwebendes Blatt die Sklavin vor ihm nieder.
»Ist alles gut gegangen?« sprach der Graf.
»Ich habe meinem Auftrag keine Unehre gemacht«, erwiderte das Mädchen.
»Hast du jemand getötet?«
»Nein, soweit ging ich nicht. Doch habe ich die goldene Büchse zu Häupten seines Lagers zum Pfände mitgebracht.«
Der Graf fragte, was sie alles erlebt habe, und sie begann zu erzählen:
»Zur Zeit des ersten Trommelwirbels brach ich auf und erreichte drei Stunden vor Mitternacht Webo. Als ich durch die Tore schritt, sah ich, wie die Schildwachen in den Wachtstuben schliefen. Ihr Schnarchen ertönte wie der Donner. Die Lagerwachen gingen auf und ab, und ich ging durchs linke Tor ins Schlafzimmer hinein. Da lag Euer Verwandter hinter seinem Vorhang auf dem Rücken in süßem Schlummer. Neben seinem Kissen sah ein
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