Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
Spiegel, den sie vorn auf der Brust trug. Beim Abschied flüsterte sie ihm noch zu: »Vergiß mein nicht!«
Als er heim kam, da war all sein Sinnen und Denken in Verwirrung. Geistesabwesend saß er da wie ein hölzerner Hahn. Er hatte einen alten Knecht namens Molo, das war ein außergewöhnlicher Mensch.
»Was fehlt Euch, Herr,« sprach er zu ihm, »dass Ihr so traurig seid? Wollt Ihr’s nicht Eurem alten Sklaven anvertrauen?«
Da erzählte ihm der Junge, was ihm begegnet war, und erwähnte auch die geheimen Zeichen, die das Mädchen ihm gemacht.
Molo sprach: »Dass sie drei Finger ausstreckte, das bedeutet, dass sie im dritten Hofe wohnt. Dass sie dreimal die Hand umdrehte, das deutet auf die Zahl von dreimal fünf Fingern. Das gibt zusammen fünfzehn. Dass sie auf ihren kleinen Spiegel zeigte, damit sagte sie, am fünfzehnten, wenn um Mitternacht der Mond rund ist wie ein Spiegel, sollet Ihr zu ihr kommen.«
Da erwachte der junge Mann aus seinen wirren Gedanken und konnte sich vor Freude kaum fassen.
Bald aber wurde er wieder traurig und sprach: »Der Palast des Fürsten ist abgeschlossen wie durch ein Meer. Wie soll es möglich sein, hineinzukommen?«
»Nichts leichter als das«, sagte Molo. »Am fünfzehnten nehmen wir zwei Stücke dunkler Seide und hüllen uns darein, und ich werde Euch so hintragen. Doch ist ein wilder Hund da, der das Hoftor der Sklavin bewacht, der ist stark wie ein Tiger und wachsam wie ein Gott. Niemand kommt an ihm vorbei. Den muss man erst töten.«
Als der bestimmte Tag gekommen war, da sprach der Diener: »Außer mir ist niemand auf der Welt imstande, diesen Hund zu töten.«
Der Jüngling gab ihm hocherfreut Wein und Fleisch. Dann nahm der Alte einen Kettenhammer und war im Augenblick damit verschwunden.
Und ehe die Dauer einer Mahlzeit vorüber war, war er schon wieder da und sprach: »Der Hund ist tot, es ist kein Hindernis mehr da.«
Um Mitternacht hüllten sich beide in dunkle Seide, und der Alte trug den Jüngling über die zehnfachen Mauern hinweg, die den Palast umgaben. Sie kamen an das dritte Tor; das war nur angelehnt. Ein Lämpchen sahen sie schimmern und hörten Rosenrot tief seufzen. Der ganze Hof war einsam und still. Der Jüngling hob den Vorhang und trat ein. Rosenrot sah ihn lange prüfend an; dann sprang sie fröhlich von ihrem Ruhebett und fasste ihn bei der Hand.
»Ich wußte doch, dass Ihr klug seid und meine Fingersprache verstandet. Aber welche Zauberkräfte stehen Euch zu Gebote, dass Ihr hierher kamt?«
Der Jüngling erzählte ausführlich Molos Verdienste.
»Und wo ist Molo?« fragte sie.
»Draußen vor dem Vorhang«, war die Antwort.
Dann rief sie ihn herein, gab ihm aus einer Jaspistasse Wein zu trinken und sprach: »Ich bin aus guter Familie fern von hier. Gezwungen nur bin ich Sklavin in diesem Haus. Ich sehne mich hinweg; denn wenn ich auch Jaspisstäbchen habe zum Essen und meinen Wein aus goldenen Kelchen trinke und Samt und Seide um mich schwellen und aller Schmuck mir zu Gebote steht: das alles sind für mich nur Fesseln und Bande. Guter Molo, du hast Zauberkräfte, ich bitte dich, rette mich aus dieser Not, dann will ich gerne deinem Herrn als Sklavin dienen und mein ganzes Leben diese Wohltat nicht vergessen.«
Der Jüngling blickte Molo an. Der war gerne bereit. Er bat um die Erlaubnis, erst in Taschen und Säcken die Aussteuer fortzuschaffen. Dreimal kam er und ging er, ehe es zu Ende war. Dann nahm er seinen Herrn und Rosenrot auf den Rücken und flog mit ihnen über die steilen Mauern hinweg. Keiner der Wächter im Schloss des Fürsten hatte irgend etwas gemerkt. Zu Hause verbarg der Jüngling Rosenrot im stillsten Gemach.
Als der Fürst entdeckte, dass ihm eine Sklavin fehlte und einer seiner wilden Hunde totgeschlagen war, da sagte er: »Das hat gewiß ein mächtiger Schwertheld getan.« Dann gab er strengen Befehl, nichts verlauten zu lassen und im Geheimen der Sache nachzuforschen.
Zwei Jahre waren vergangen, und der Jüngling dachte nicht mehr an irgendwelche Gefahr. Als daher im Frühling die Blumen blühten, da fuhr Rosenrot auf einem kleinen Wagen vor die Stadt hinaus an den Fluss. Sie ward von einem Diener des Fürsten entdeckt. Der berichtete es seinem Herrn. Der Jüngling musste zu ihm kommen. Da er die Sache nicht verbergen konnte, so erzählte er alles der Wahrheit gemäß.
Der Fürst sprach: »Rosenrot hat die ganze Schuld. Euch mach’ ich keinen Vorwurf. Aber da sie nun Eure Frau ist, so will ich’s ihr
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