Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
ihnen Drachenbart ein Buch und einen Schlüssel.
Dann sprach er: »In diesem Buche sind die Kostbarkeiten und Reichtümer aufgezeichnet, die in meinem Besitze sind. Ich schenke sie euch beiden zur Hochzeit. Ohne Besitz läßt sich nichts Großes unternehmen, und es ist meine Pflicht, dass ich meine Schwester auch ordentlich ausstatte. Ich hatte ursprünglich vor, das Reich der Mitte in die Hand zu nehmen und hier etwas zu machen. Nun ist aber schon ein Herrscher da, was soll ich da weiter an diesem Orte tun? Der Prinz Tang in Taiyüanfu ist ein rechter Held. In ein paar Jahren wird er Ordnung geschaffen haben. Ihr beiden müsst ihm beistehen und werdet es sicher zu hohen Ehren bringen. Du, Schwester, bist nicht nur schön, sondern hast auch den rechten Sinn. Niemand anders als du wäre imstande gewesen, den Wert Li Dsings zu erkennen, und niemand anders als Li Dsing hätte das Glück gehabt, dich zu treffen. Du wirst die Ehren deines Mannes teilen, und dein Name wird in der Geschichte genannt sein. Das alles ist kein Zufall. Die Schätze, die ich euch geschenkt, müsst ihr verwenden, um dem wahren Herrn zu helfen. Lasst’s euch angelegen sein! In zehn Jahren wird ferne im Südosten sich ein Schein erheben, das soll das Zeichen sein, dass ich mein Ziel erreicht. Dann mögt ihr nach Südosten hin Weinspende gießen, um mir Glück zu wünschen.«
Darauf ließ er die Dienerinnen und Knechte der Reihe nach Li Dsing und das Wedelmädchen begrüßen und sprach zu ihnen: »Das sind eure Herrn.«
Nach diesen Worten nahm er seine Frau an der Hand; sie bestiegen die bereit gehaltenen Pferde und ritten weg.
Li Dsing und seine Frau bezogen nun das Haus und waren unermeßlich reich. Sie folgten dem Prinzen Tang, der Ordnung im Reiche schuf, und standen ihm mit ihrem Gelde bei. So ward das große Werk vollbracht, und nachdem das Reich in Frieden war, ward Li Dsing zum Herzog von We ernannt und das Wedelmädchen zur Herzogin.
Nach zehn Jahren aber ward dem Herzog berichtet, dass in dem Reiche ferne über’m Meer tausend Schiffe gelandet seien mit hunderttausend gepanzerten Soldaten. Die hätten das Land erobert, den Fürsten getötet und ihren Führer zum König eingesetzt. Das Reich sei nun in Ordnung.
Da wußte der Herzog, dass der Drachenbart sein Werk vollbracht. Er sagte es seiner Frau. Sie zogen Festgewänder an und spendeten Wein, um ihren Glückwunsch darzubringen. Da sahen sie am Südosthimmel leuchtend einen roten Schein aufstrahlen. Den hatte wohl der Drachenbart entsandt, um ihnen Antwort zu geben. Da waren beide hoch erfreut.
88. Wie der Molo die Rosenrot stahl
Zur Zeit der Tang-Dynastie gab es Schwertmeister verschiedener Art. Die ersten, das waren die Schwertheiligen. Sie konnten sich nach Belieben verwandeln, und ihr Schwert war wie der Blitzstrahl. Ehe sich’s die Leute versahen, waren ihre Köpfe schon gefallen. Doch waren diese Männer hohen Sinns und mischten sich nicht leicht in Weltgeschäfte ein. Die zweite Art, das waren die Schwerthelden. Sie pflegten die Ungerechten zu töten und den Bedrängten zu Hilfe zu kommen. Sie trugen einen Dolch an ihrer Seite verborgen und hatten eine Ledertasche um. Durch Zaubermittel vermochten sie Menschenköpfe in Wasser zu verwandeln. Sie flogen über die Dächer und gingen an den Wänden auf und ab. Spurlos kamen und gingen sie. Die unterste Art, das waren Mörder. Sie ließen sich dingen, wenn einer sich an seinen Feinden rächen wollte. Der Tod war ihnen etwas Alltägliches.
Der alte Drachenbart war wohl mitten inne zwischen der ersten und zweiten Art. Der Molo aber, von dem eine andere Geschichte erzählt, war einer der Schwerthelden.
Es lebte zu jener Zeit ein junger Mann namens Tsui. Sein Vater war ein hoher Beamter und Freund eines Fürsten. Der Vater sandte einst seinen Sohn, um seinen Freund, der krank war, zu besuchen. Der Sohn war jung und schön und wohlbegabt. Er ging hin, seines Vaters Befehle auszurichten. Als er in das Haus kam, da standen drei schöne Sklavinnen, die auf goldene Schalen rote Pfirsiche häuften, sie mit Zuckerwasser übergossen und ihm darreichten. Als er gegessen hatte, verabschiedete er sich, und der vornehme Gastfreund befahl einer Sklavin mit Namen Rosenrot, ihn zum Hofe hinaus zu geleiten. Beim Gehen sah sich der junge Mann fortwährend nach ihr um. Sie blinzelte ihn lächelnd an und machte ihm mit der Hand Zeichen. Erst streckte sie drei Finger aus, dann drehte sie dreimal die Hand um, und endlich wies sie auf einen kleinen
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