Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
kostbares Schwert hervor; dabei stand eine offene goldene Büchse. In der Büchse waren Zettel. Auf dem einen stand sein Lebensalter und sein Geburtstag, auf dem anderen der Name des Gottes des Großen Bären. Weihrauchkörner und Perlen lagen darauf. Die Kerzen im Zimmer gaben einen schwachen Schein, und der Weihrauch vom Räucherbecken war eben im Verglimmen. Die Dienerinnen lagen ringsumher zusammen gekrümmt und schliefen. Ich konnte ihnen die Haarpfeile herausziehen und ihnen die Kleider aufheben, ohne dass sie erwachten. Das Leben Eures Verwandten stand in meiner Hand; aber ich brachte es nicht über mich, ihn zu töten. Darum nahm ich die goldene Büchse und kehrte zurück. Die Wasseruhr zeigte die dritte Stunde an, als ich meinen Weg vollendet. Nun müsst Ihr rasch ein schnelles Pferd satteln lassen und einen Mann damit nach Webo schicken, der die goldene Büchse zurückbringt. Dann wird der Herr von Webo schon zur Besinnung kommen und seine Eroberungspläne fallen lassen.«
Der Graf von Ludschou befahl nun einem Offizier, so schnell wie möglich nach Webo zu reiten. Er ritt den ganzen Tag und die halbe Nacht, da kam er an. In Webo war jedermann in Aufregung wegen des Verlustes der goldenen Büchse. Im ganzen Lager wurde alles streng durchsucht. Da klopfte der Bote mit der Reitpeitsche an die Tür und verlangte, den Herrn von Webo zu sehen. Weil er zu so ungewöhnlicher Stunde kam, vermutete der Herr von Webo, dass er eine wichtige Nachricht habe, und kam aus seinem Zimmer, den Boten zu empfangen. Der übergab ihm einen Brief, darin stand geschrieben: »Gestern Nacht kam ein Fremder von Webo bei uns an. Er erzählte, dass er mit eigener Hand von Eurem Bette eine goldene Büchse genommen habe. Ich wage sie nicht zu behalten und sende darum diesen Boten, sie Euch schleunigst wieder zurückzuerstatten.« Als der Herr von Webo die goldene Büchse sah, erschrak er sehr. Er nahm den Boten mit in sein eigenes Gemach, bewirtete ihn mit einem köstlichen Mahl und belohnte ihn reichlich.
Am anderen Tage fertigte er den Boten wieder ab und gab ihm dreißigtausend Ballen Seide und fünfzig der besten Viergespanne mit als Geschenk für seinen Herrn. Auch schrieb er einen Brief an den Grafen von Ludschou:
»Mein Leben stand in Eurer Hand. Ich danke Euch, dass Ihr mich geschont, bereue meine Absicht und will mich bessern. Von nun ab soll ewig Friede und Freundschaft zwischen uns bestehen, und ich werde niemals wieder andere Gedanken hegen. Die Bürgerwehr, die ich um mich versammelt, soll mir zum Schutze gegen Räuber dienen. Ich habe sie bereits entwaffnet und an die Feldarbeit zurückgeschickt.«
Von da ab herrschte zwischen den beiden Verwandten im Norden und Süden des gelben Flusses die herzlichste Freundschaft.
Eines Tages kam die Sklavin und wollte sich von ihrem Herrn verabschieden. Der sprach: »Du bist hier im Hause geboren; wohin willst du denn gehen? Auch brauche ich dich so notwendig, dass ich dich nicht entbehren kann.«
,,In meinem früheren Leben«, sprach die Sklavin, »war ich ein Mann. Ich half als Arzt den Kranken. Da kam einmal eine Frau in guter Hoffnung zu mir, die litt an Würmern. Aus Versehen gab ich ihr Seidelbastwein zu trinken, und sie starb samt ihrem Kinde, das sie trug. Dadurch zog ich mir die Vergeltung des Herrn der Toten zu, und ich wurde wiedergeboren als Mädchen in geringer Stellung. Doch kam die Erinnerung an mein früheres Leben über mich; ich pflegte eifrig meinen Wandel und fand auch einen seltenen Lehrer, von welchem ich die Schwerterkunst erlangte. Nun habe ich Euch schon neunzehn Jahre lang gedient. Ich ging für Euch nach Webo, um Eure Güte zu vergelten. Ich habe es dadurch erreicht, dass Ihr mit Euren Verwandten nun wieder in Frieden lebt, und Tausenden von Menschen habe ich so das Leben gerettet. Das ist für eine schwache Frau doch immer ein Verdienst, genügend, meine frühere Schuld zu tilgen. Nun will ich mich von der Welt zurückziehen und in den stillen Bergen weilen, um reinen Herzens meine Heiligung zu wirken. Vielleicht, dass es mir dann gelingt, in meinen früheren Stand zurückzukehren. Darum bitt’ ich, lasst mich ziehen!«
Der Graf sah ein, dass er sie nicht mehr länger halten dürfe; darum bereitete er ein großes Festmahl und lud viele Gäste ihr zum Abschied. Manch namhafter Ritter saß bei Tisch. Sie alle feierten sie mit Trinksprüchen und Gedichten.
Der Graf konnte seiner Rührung nicht mehr Meister werden, und auch die Sklavin verneigte sich
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