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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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es ein und setzte sich darauf. Das Pferd wandte sich zurück nach dem Weg, auf dem es gekommen war, und wieherte unablässig.
    »Was hat nur das Pferd?« dachte der Vater. »Sicher muss zu Hause irgend etwas los sein.« So ließ er ihm denn die Zügel und ritt zurück. Weil das Pferd so klug gewesen war, so gab er ihm reichliches Futter. Aber das Pferd fraß nichts, und wenn es das Mädchen sah, so schlug es nach ihr und wollte sie beißen. Der Vater verwunderte sich darüber und fragte das Mädchen. Die Tochter sagte ihm alles der Wahrheit gemäß. »Du darfst keinem Menschen etwas davon sagen«, sprach der Vater, »wir könnten sonst in übles Gerede kommen.« Dann nahm er seine Armbrust und schoß das Pferd tot. Seine Haut aber hängte er im Hof zum Trocknen auf. Dann verreiste er wieder.
    Eines Tages ging die Tochter mit einer Nachbarin spazieren. Als sie zu dem Hofe kamen, da stieß sie mit dem Fuß an das Pferdefell und sprach: »Ein unvernünftiges Tier wie du — und wolltest ein Menschenmädchen zur Frau! Es geschieht dir ganz recht, dass du jetzt tot bist.«
    Aber noch ehe sie ausgeredet, da bewegte sich die Pferdehaut und richtete sich auf. Sie wickelte sich um das Mädchen herum und rannte weg.
    Entsetzt lief die Nachbarin zu ihrem Vater und erzählte ihm, was vorgefallen. Überall suchte man nach dem Mädchen, aber es blieb verschwunden.
    Endlich nach einigen Tagen sah man in den Zweigen eines Baumes das Mädchen in der Pferdehaut hängen. Allmählich verwandelte sie sich in eine Seidenraupe und verpuppte sich. Die Fäden, in die sie sich einspann, waren stark und dicht. Die Nachbarin nahm sie herunter und ließ sie ausschlüpfen. Dann spann sie die Seide und fand reichlichen Gewinn.
    Ihre Angehörigen aber sehnten sich sehr nach ihr. Da erschien eines Tages das Mädchen in den Wolken auf ihrem Pferde reitend mit einem großen Gefolge und sprach: »Im Himmel ist mir nun das Amt übertragen, zu wachen über die Zucht der Seidenraupen. Ihr müsst euch nicht mehr nach mir sehnen.« Darauf wurden ihr in ihrer Heimat Tempel errichtet, und jedes Jahr zur Zeit der Seidenraupen fleht man sie unter Opfern an um ihren Schutz. Sie heißt die Göttin mit dem Pferdekopf.

22. Die Himmelskönigin
    Die Himmelskönigin, auch heilige Mutter genannt, war bei ihren Lebzeiten eine Jungfrau aus Fukien, namens Lin. Sie war rein, ehrfürchtig und fromm von Art. Als sie siebzehn Jahre alt war, starb sie, ohne verheiratet gewesen zu sein. Sie zeigt ihre Macht auf dem Meere, darum wird sie von den Schiffern fromm verehrt. Wenn sie unerwartet von Wind und Wogen überfallen werden, so rufen sie sie an, und jederzeit ist sie bereit, zu erhören.
    In Fukien gibt es viele Seefahrer, und jedes Jahr kommt es vor, dass Leute ums Leben kommen. Da war es wohl so, dass die Himmelskönigin zu ihren Lebzeiten Mitleid hatte mit der Not ihrer Landsleute. Und weil ihr Geist unentwegt darauf gerichtet war, den Ertrinkenden aus ihrer Not zu helfen, so erscheint sie jetzt häufig auf dem Meere.
    Auf allen Schiffen, die das Meer durchfahren, hängt in der Kajüte ein Bild der Himmelskönigin, und ferner werden drei Talismane aus Papier im Schiffe aufbewahrt. Auf dem einen ist sie gemalt mit Krone und Zepter, auf dem zweiten ist sie gemalt als Jungfrau in gewöhnlichem Gewand, auf dem dritten ist sie gemalt mit offenem Haar, barfuß, ein Schwert in der Hand und stehend. Kommt nun das Schiff in Gefahr, so verbrennt man den ersten Talisman, und es naht die Hilfe. Hilft der noch nicht, so verbrennt man den zweiten und schließlich den dritten. Tritt dann noch keine Hilfe ein, so ist nichts mehr zu machen.
    Wenn in Wind und Wogen und Wolkendunkel die Schiffer ihre Richtung verloren, so rufen sie in frommem Gebet die Himmelskönigin an. Dann erscheint eine rote Lampe auf den Wassern. Folgt man der Lampe nach, so kommt man sicher aus aller Gefahr. Oft sieht man auch die Himmelskönigin in den Wolken stehen und mit ihrem Schwerte den Wind zerteilen. Der Wind entfernt sich dann nach Nord und Süd, und die Wogen glätten sich.
    Vor dem heiligen Bilde im Schiffe ist stets ein hölzerner Stab. Oft kommt es vor, dass die Fischdrachen auf dem Meere spielen. Das sind zwei riesige Fische, die gegeneinander das Wasser in die Höhe blasen, also dass des Himmels Sonne verfinstert wird und tiefes Dunkel das Meer verhüllt. Aus der Ferne sieht man oft in diesem Dunkel eine lichte Öffnung. Wenn man das Schiff gerade darauf zu hält, so kommt man durch und ist plötzlich

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