Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
und seine Augen traten aus ihren Höhlen vor Entsetzen. Aber es ging so weiter: sechs Arme wuchsen ihm aus dem Leib hervor und auch noch zwei Köpfe, so dass er schließlich drei Köpfe und acht Arme hatte. Er rief seinem Meister zu: »Was will das werden?« Der aber lachte und sprach: »Gut so! Gut so! So bekommst du erst die rechte Macht.« Dann lehrte er ihn einen Zauber, dass er nach Belieben die Arme und Köpfe sichtbar oder unsichtbar machen konnte. Als der Tyrann Dschou-Sin vernichtet war, da wurden Li Dsing und seine drei Söhne noch bei Leibesleben unter die Götter versetzt.
19. Die Mondfee
Zur Zeit des Kaisers Yau lebte ein Fürst, namens Hou I, der war ein starker Held und guter Schütze. Einst gingen zehn Sonnen am Himmel auf, die schienen so hell und brannten so heiß, dass die Menschen es nicht aushalten konnten. Da gab der Kaiser dem Hou I den Befehl, nach ihnen zu schießen. Der schoss nun neun von den Sonnen herunter. — Er hatte aber auch ein Pferd, das war so schnell, dass es den Wind einholen konnte. Er setzte sich darauf und wollte auf die Jagd. Da rannte das Pferd davon und ließ sich nicht mehr halten. So kam er an den Kunlun-Berg und sah die Königin-Mutter am Jaspis-See. Die gab ihm das Kraut der Unsterblichkeit. Das nahm er mit nach Hause und verbarg es im Zimmer. Er hatte eine Frau, namens Tschang 0. Die naschte davon, als er einmal nicht zu Hause war, und sogleich schwebte sie zu den Wolken empor. Wie sie beim Mond angekommen war, da lief sie in das Schloss im Mond und lebt dort seither als Mondfee.
Ein Kaiser aus dem Hause Tang saß einmal in der Mittherbstnacht mit zwei Zauberern beim Wein. Der eine nahm eine Bambusstange und warf sie in die Luft; die wandelte sich zur Himmelsbrücke, und nun stiegen die drei zusammen zum Mond hinauf. Da sahen sie ein großes Schloß, darauf stand geschrieben: »Die weiten Hallen der klaren Kälte«. Ein Kassiabaum stand daneben, der blühte und duftete, dass die ganze Luft von seinem Duft erfüllt war. Ein Mann saß auf dem Baum, der mit einer Axt die Nebenzweige abhieb. Der eine Zauberer sprach: »Das ist der Mann im Monde. Der Kassiabaum wächst so üppig, dass er mit der Zeit den ganzen Glanz des Mondes beschatten würde. Darum muss er alle tausend Jahre einmal abgehauen werden.« Dann traten sie in die weiten Hallen. Silbern türmten sich die Stockwerke übereinander. Die Säulen und Wände waren alle aus Wasserkristall. Es waren Käfige da und Teiche; darinnen waren Fische und Vögel, die bewegten sich wie lebend. Die ganze Welt schien aus Glas zu sein. Während sie noch nach allen Seiten Umschau hielten, trat die Mondfee auf sie zu in weißem Mantel und regenbogenfarbenem Gewand. Sie sprach lächelnd zum Kaiser: »Du bist ein Fürst der Welt des Erdenstaubs. Du musst Glück haben, dass du hierher gelangen konntest.« Damit rief sie ihre Dienerinnen, die kamen auf weißen Vögeln heran geflogen und sangen und tanzten unter dem Kassiabaum. Reine, klare Klänge tönten durch die Luft. Neben dem Baume aber stand ein Mörser aus weißem Marmelstein. Ein Hase aus Jaspis zerstieß darinnen Kräuter. Das war die dunkle Hälfte des Monds. Als der Tanz zu Ende war, da kehrte der Kaiser mit den Zauberern wieder zurück. Er ließ die Lieder, die er im Monde gehört hatte, aufzeichnen und zur Begleitung von Jaspisflöten im Birnengarten singen.
20. Der Morgen- und der Abendstern
Es waren einmal zwei Söhne des goldenen Himmelsgottes. Der eine hieß Hesperus, der andere Luzifer. Die beiden gerieten einst in Streit, und Hesperus schlug dem Luzifer die Hüfte entzwei. Da taten die beiden Sterne einen Schwur, sich nie mehr zu sehen. Hesperus kam immer nur abends hervor und Luzifer immer nur in der Früh, und erst wenn Hesperus verschwunden ist, wird Luzifer wieder sichtbar. Darum heißt es: Wenn zwei Brüder nicht in Frieden leben, so sind sie Hesperus und Luzifer.
21. Das Mädchen mit dem Pferdekopf
In uralten Zeiten lebte einmal ein Greis, der ging auf Reisen. Niemand war zu Hause, als nur seine einzige Tochter und ein weißer Hengst. Jeden Tag fütterte die Tochter das Pferd. In ihrer Einsamkeit hatte sie Heimweh nach ihrem Vater. So redete sie einmal im Scherz zu ihrem Pferd: »Wenn du mir meinen Vater zurückbringst, so will ich dich heiraten.«
Kaum hatte das Pferd die Worte gehört, da riss es sich los und lief weg. Es lief in einem fort, bis es an den Ort kam, wo der Vater war. Als der Vater das Pferd erblickte, war er freudig überrascht, fing
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