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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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nur zeigt das Bild des Tigers,
Bei Menschen kennt man das Gesicht, doch nicht das Herz.«
    Dadurch ward seine Frau noch mehr erbost; sie spuckte ihm ins Gesicht und sprach: »Es gibt doch verschiedene Menschen auf der Welt. Wie kannst du um der einen willen das ganze weibliche Geschlecht verunglimpfen?«
    »Versündige dich nicht mit leeren Worten!« sagte Dschuang Dsï zu ihr. »Nimm einmal an, ich hätte das Unglück und würde sterben; dass du mir ewige Treue hieltest, davon will ich ganz schweigen, ich fürchte, du würdest es nicht einmal ein paar Jahre lang aushalten.«
    »Ein treuer Knecht kann nicht zwei Herren dienen. Ein gutes Weib heiratet nicht zum zweitenmal. Wenn je mich dieses Unglück treffen sollte, ich würde niemals einem anderen angehören.«
    »Und ich glaub dir es doch nicht!« sagte Dschuang Dsï.
    Da geriet die Frau in solche Wut, dass sie in Tränen ausbrach.
    »Wir Frauen sind doch treuer als ihr Männer. So ein herzloser Gesell wie du! Die erste starb dir weg, da nahmst du eine zweite. Die zweite schicktest du fort, da nahmst du mich. Und nun denkst du, dass wir Frauen auch so seien. Du bist ja noch gar nicht tot. Wie kannst du deine eigenen Schlechtigkeiten anderen in die Schuhe schieben!«
    Damit riss sie dem Dschuang Dsï den seidenen Fächer aus der Hand und zerbrach ihn in tausend Stücke.
    »Mein Liebchen«, sagte Dschuang Dsï, »wenn du wirklich so gesinnt bist, so kann es mir ja nur recht sein. Warum musst du denn gleich so böse werden?«
    So hatte das Gespräch ein Ende.
    Nach ein paar Tagen wurde Dschuang Dsï plötzlich krank, und es ward von Tag zu Tag schlimmer. Da wandte er sich unter Tränen an seine Frau.
    »Es steht schlimm mit mir«, sagte er, »jeden Augenblick kann ich sterben. Wie schade, dass du den seidenen Fächer schon zerbrochen hast! Hättest du ihn noch, so könntest du mit ihm mein Grab fächeln.«
    Da brach die Frau in lautes Weinen aus und schwur ihm ewige Treue.
    »Daran erkenne ich deine Liebe«, sprach Dschuang Dsï. »Bin ich erst tot, habe ich die Augen zu.«
    Als er das gesagt, da stand sein Atem still.
    Die Frau ließ nun einen Sarg machen und legte Trauerkleidung an. Tag und Nacht schrie und schluchzte sie. So trieb sie es sieben Tage lang.
    Da kam plötzlich ein junger Bakkalaureus. Er hatte ein Gesicht wie Milch und Blut. Er trug ein Purpurkleid und gestickte Schuhe, ein ungewöhnlich hübscher Jüngling. Er brachte einen alten Diener mit, sagte, er sei ein Prinz von Tschu und habe sich seit einem Jahre vorgenommen, dass er bei Dschuang Dsï Schüler werden wolle. Unglücklicherweise sei nun der Meister tot.
    Darauf zog er Trauerkleider an, kniete vor dem Sarge nieder und betete zu dem Geiste des Verstorbenen: »Es war vom Schicksal mir versagt, deine Worte, o Meister, zu hören. Hundert Tage will ich an deinem Sarge trauern, um meine Verehrung zu bezeugen.«
    Als er ausgebetet hatte, vergoß er Tränen und stand wieder auf. Darauf bat er, der Witwe vorgestellt zu werden. Die lehnte ab.
    Jedoch der Prinz sprach: »Wenn Freunde beieinander wohnen, so erlauben sie einander, auch ihre Gattinnen zu sehen. Wieviel mehr gebührt sich das, da ich doch mit dem Meister verabredet hatte, sein Schüler zu werden.«
    Da empfing ihn die Witwe.
    Auf den ersten Blick erkannte sie, dass der Prinz ein feiner Herr war. So empfand sie denn Mitleid mit ihm.
    »Ich möchte hier ein Zimmer entlehnen,« sagte der Prinz, »um die Trauerzeit für meinen Lehrer zu verbringen. Außerdem bitte ich um die hinterlassenen Schriften des Meisters, damit ich mich aus ihnen belehren kann.«
    Die Witwe war damit einverstanden und richtete das Gartenhaus für ihn als Wohnung ein. Auch holte sie die hinterlassenen Schriften ihres Mannes heraus und gab sie dem Prinzen. Der bedankte sich und machte sich an der Seite des Sarges einen Platz zurecht, wo er die Schriften las.
    Die Witwe aber kam täglich, vor dem Sarge zu weinen. Und so gab sich’s ganz von selber, dass sie mit dem Prinzen zuweilen ins Gespräch kam. Allmählich wurden sie vertrauter, und mancher zärtliche Blick verriet die Gefühle des Herzens. Endlich hielt es die Witwe nicht länger aus. Sie rief den alten Diener zu sich ins Zimmer, setzte ihm vom besten Weine vor und bat ihn, den Heiratsvermittler zu machen.
    Der Alte kam mit der Nachricht zurück, dass sein Herr beglückt sei von der Aussicht auf diese Verbindung. Nur stehe ihr entgegen, dass der Verstorbene sein Lehrer gewesen. Es sei zu fürchten, dass die Leute

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