Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
schwammen Fische und Schildkröten, Krebse und Molche herbei und bildeten eine Brücke, so dass er mit dem Wagen hinüberfahren konnte. Von der Königin-Mutter des Westens heißt es, sie trage wirre Haare, habe einen Vogelschnabel, Tigerzähne und sei geschickt im Flöten. Doch ist das nicht ihre wahre Gestalt, sondern nur ein dienender Geist, der über den westlichen Himmel waltet. Den König Mu bewirtete sie in ihrem Schloss an der Jaspisquelle. Sie gab ihm von dem Felsenmark zu trinken und speiste ihn mit den Früchten der Jaspisbäume. Dann sang sie ihm ein Lied und lehrte ihn einen Zauber, durch den man langes Leben erreicht. Die Königin-Mutter des Westens versammelt um sich die Unsterblichen, die sie mit den Pfirsichen des langen Lebens bewirtet; die kommen dann herbei auf Wagen mit purpurnen Baldachinen, die von fliegenden Drachen gezogen werden. Gewöhnliche Sterbliche versinken im Schwachen Wasser, wenn sie hinüber wollen. Dem König Mu dagegen war sie wohlgesinnt.
Als er von ihr schied, da kam er noch an den Ort, wo die Sonne einkehrt, die täglich dreitausend Meilen läuft. Dann kehrte er zurück in sein Reich.
Als er hundert Jahre alt geworden war, da nahte sich die Königin-Mutter des Westens seinem Palast und führte ihn mit sich in die Wolken.
Seit jenem Tag ward er nicht mehr gesehen.
39. Weibertreu
(Dschuang Dsï und seine Frau)
Es war einmal ein großer Gelehrter, der hieß Dschuang Dsï. Er ging zu Laotse in die Lehre. Einst schlief er bei Tage ein; da träumte ihm, er sei ein Schmetterling und flattere zwischen den Bäumen und Blumen des Gartens umher in ungetrübter Freude. Er erzählte diesen Traum dem Laotse. Der sprach zu ihm: »Im Anfang, als die Welt entstand, warst du ein weißer Schmetterling. Der fand den Sinn und wurde Geist. Da naschtest du vom Blütenstaub der Pfirsiche am Nephritteich und wurdest zur Strafe dafür vom grünen Pfau, der unten am Throne der Königin-Mutter sitzt, zu Tode gepickt. Nun bist du als Mensch wieder zur Welt gekommen.«
Als Dschuang Dsï diese Worte vernahm, da erinnerte er sich nebelhaft seines früheren Lebens und fasste den festen Entschluß, seinen Wandel zu pflegen. Laotse bemerkte, wie klug er war, und weihte ihn daher in die Geheimnisse des Buches vom Sinn und Leben ein.
Von jener Zeit ab verstand es Dschuang Dsï, als Doppelgänger zu erscheinen, sich unsichtbar zu machen und jede beliebige Gestalt anzunehmen. Er zog sich von der Welt zurück ins Blütenland des Südens.
Als er eines Tages in den Bergen wanderte, da sah er eine junge Frau in Trauerkleidung, die saß vor einem frischen Grab, hielt einen seidenen Fächer in der Hand und fächelte unaufhörlich dem Grabe Luft zu.
Dschuang Dsï fragte erstaunt, was sie tue.
,,Mein dummer Mann«, erwiderte die Frau, »ist unglückseligerweise gestorben. Zu seinen Lebzeiten war er immer gut zu mir. Bei seinem Tode ermahnte er mich, dass, wenn ich einen anderen heiraten wollte, ich warten müsse, bis die Erde seines Grabes trocken sei. Nun sage ich mir, dass frisch gehäufte Erde nicht plötzlich trocken werden kann. Darum fächle ich das Grab.«
»Ihr möchtet wohl«, sprach Dschuang Dsï lachend, »dass das neue Grab bald trocken würde? Nichts leichter als das! Darf ich Euch ein wenig helfen?«
Damit nahm er den Fächer, sprach im Geheimen einen Zauberspruch, fächelte ein paarmal nach dem Grabe, und schon war auch die Erde trocken.
Die junge Frau war hoch erfreut, bedankte sich bei Dschuang Dsï, schenkte ihm noch zum Abschied ihren seidenen Fächer und ging fröhlich ihrer Wege.
Dschuang Dsï kam heim und setzte sich ins Gartenhaus.
Er hielt den Fächer in der Hand und blickte ihn an. Er fühlte sich innerlich unbehaglich und seufzte fortwährend.
Seine Frau war eine geborene Tiän. Sie stammte aus dem alten Fürstengeschlecht von Tsi. Sie war jung und schön. Es war seine dritte Frau. Die erste war gestorben, die zweite hatte er verstoßen, und als dritte hatte er sie genommen.
Sie fragte ihn: »Wo hast du denn den Fächer her, und warum seufzest du so unaufhörlich?«
Da erzählte ihr Dschuang Dsï die Geschichte von der jungen Frau am Grab.
Seine Frau ward sehr erbost und sprach: »Dieses treulose Weib wollte schon wieder heiraten, nachdem noch nicht einmal die Erde des Grabes trocken war! Das ist doch eine Schamlosigkeit.«
Dschuang Dsï sang ein Liedchen vor sich hin:
»Solange man lebt, spricht jede nur von Liebe,
Ist man erst tot, so fächelt sie das Grab.
Das äußere Fell
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