Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
Raum. Sein Gesicht war mehrere Fuß lang und schwarz wie Rauch und Kohle. Er tappte auf das Bett zu. In seiner Todesangst nahm der Mann, der sich nicht anders mehr zu helfen wußte, sein Schwert und wollte es ihm in den Bauch stoßen; aber es glitt knirschend ab wie an hartem Stein. Da wurde der Geist böse, riss ihm das Schwert aus der Hand und zerbrach es wie ein dürres Zweiglein. Der Mann hüllte sich in seine Decken ein, und der Geist packte ihn mit seiner ungeheuren Faust, gerade als griffe man nach einer Mücke oder einem Floh. Weil aber seine Finger allzu ungefüg waren, entwischte ihm der Mann und verbarg sich unter dem Bett. So hatte der Geist nur die Decke in der Hand, als er wegging.
Wie der Morgen angebrochen war, da kehrte der Gelehrte schleunigst nach Hause zurück und wagte nie wieder in den Bergtempel zu kommen.
47. Der Geist vom Wuliän-Berg
Im Westen der Kiautschou-Bucht ist der, Wuliän-Berg, wo es viele Geister gibt. Dort lebte einmal ein Scholar, der spät in der Nacht noch auf war und las. Als er vors Haus trat, erhob sich plötzlich ein Sturm, und ein Ungetüm streckte die Klauen nach ihm aus und packte ihn beim Haar. So hob es ihn in die Luft und trug ihn weg. Es fuhr mit ihm am Meerblickturm vorbei. Das ist ein buddhistischer Tempel im Gebirge. Da sah er aus der Ferne in den Wolken eine Göttergestalt in goldener Rüstung stehen. Die Gestalt glich ganz dem Weto-Bilde, das im Turme war. In der rechten Hand hatte sie die eiserne Keule, mit der linken deutete sie auf das Ungetüm und sah es zornig an. Da ließ das Ungetüm den Schüler fallen, gerade auf die Spitze des Turmes und verschwand. Der Heilige im Turm war ihm wohl zu Hilfe gekommen, weil seine ganze Familie den Buddha fromm verehrte.
Als die Sonne aufging, da kam der Priester und erblickte ihn auf seinem Turm. Er häufte auf dem Boden Heu und Stroh auf; so konnte der Schüler herunterspringen, ohne sich zu verletzen. Man brachte ihn nach Hause zurück; doch blieb sein Haar an den Stellen, wo das Ungetüm zugepackt hatte, steif und unbiegsam. Nach einem halben Jahre erst wurde es wieder besser.
48. Der Rossberg-Geist
Im Fuß des Rossbergs ist ein Dorf. Da war ein Bauer, der vom Getreidehandel lebte. Alle fünf Tage ging er in den Flecken östlich vom Dorf auf den Markt. Jener Markt war etwa eine Meile weit und von dem Dorfe durch einen Felsrücken getrennt. Eines Tages kam er etwas betrunken vom Markte heim. Er ritt auf seinem Maultier und kam eben bei dem Felsrücken vorüber, als er plötzlich an einem Bach ein Ungeheuer sitzen sah. Sein riesiges Gesicht war blau, und die Augen traten aus dem Kopf hervor wie bei einer Krabbe. Sie leuchteten mit funkelndem Schein. Das Maul klaffte ihm bis an die beiden Ohren und sah aus wie eine Schüssel voll Blut. Darinnen standen in dichtem Gewirr zwei, drei Zoll lange Zähne. So hockte es am Bach; es hatte sich eben niedergebeugt und schlürfte Wasser. Man hörte ganz deutlich, wie das Wasser gluckste.
Der Bauer erschrak entsetzlich. Zum Glück hatte ihn das Ungetüm noch nicht gesehen. Das machte er sich zu nutze und schlug den Umweg ein, der am Nordhang des Felsens vorbei führt. Dieser Weg ist eben, aber etwas weiter. Die Leute aus dem Dorf benützten ihn, wenn sie Schubkarren zu schieben hatten. Der Bauer gab seinem Maultier die Peitsche und galoppierte, so schnell er konnte. Als er eben um die Ecke bog, da hörte er jemand hinter sich rufen: »Nachbar, wartet auf mich!«
Er blickte sich um, da war es sein Nachbarsohn. Er machte Halt und wartete. Der Nachbar sprach: »Der alte Li ist ernstlich krank. Er wird’s wohl nicht mehr lange treiben. Sein Sohn hat mich gebeten, in den Marktflecken zu gehen und einen Sarg zu bestellen. Eben komme ich zurück.«
Der Bauer wußte, dass der alte Li schon lange krank war, und so glaubte er ihm.
Der Nachbar redete weiter: »Ihr geht doch für gewöhnlich immer den nächsten Weg über den Berg; warum macht Ihr heute diesen Umweg?«
Der Bauer sagte etwas unbehaglich: »Ich wollte auch heute über den Berg; aber da sah ich ein Ungetüm, häßlich und fürchterlich, darum ist mir der Umweg nicht zu weit.«
Der Nachbar sprach: »Wenn ich Euch so reden höre, so kommt mich selbst die Furcht an, und ich getraue mich nicht allein nach Hause. Wie wäre es, wenn Ihr mich hinter Euch auf Euer Maultier sitzen ließet?«
Der Bauer war es zufrieden, und der Nachbar setzte sich hinter ihn auf das Maultier.
Nach ein paar Schritten fing er wieder an: »Wie sah
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