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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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er im Himmel oder auf Erden sei.
    Als der Tanz zu Ende war, setzten sich die Mädchen wieder an den Tisch und tranken bei kreisendem Becher auf das Wohl der Tanten. Auch des Gelehrten wurde in einem Trinkspruch gedacht, und er erwiderte in zierlichen Worten.
    Die achtzehn Tanten aber waren in ihrem Wesen etwas leichtsinnig. Auch begann der Wein schon zu wirken. Als eine daher den Becher erhob, zitterte sie ein wenig mit der Hand, und ehe sie sich’s versah, goß sie der Punica etwas Wein auf die Kleider. Punica, die jung und feurig war und ein reinliches Wesen hatte, stand ärgerlich auf, als sie ihr rotes Kleid von dem Wein befleckt sah.
    »Ihr seid doch gar zu unvorsichtig«, sagte sie zürnend. ,,Die anderen Schwestern haben Angst vor euch, ich fürchte euch nicht.«
    Da wurden die Tanten auch böse und sagten: »Wie kann das junge Ding da wagen, uns zu beleidigen!«
    Damit rafften sie ihre Kleider zusammen und standen auf.
    Alle Mädchen drängten sich um sie und sprachen: ,,Die Punica ist jung und unerfahren. Sie hat sich betrunken und weiß nicht, was sie tut. Ihr müsst es ihr nicht übelnehmen. Morgen soll sie mit einer Rute sich bei euch einfinden und ihre Strafe entgegennehmen.«
    Doch die achtzehn Tanten hörten nicht auf sie und gingen. Darauf verabschiedeten sich auch die Mädchen, zerstreuten sich in den Blumenbeeten und verschwanden. Noch lange saß der Gelehrte in traumverlorener Sehnsucht da.
    Am anderen Abend kamen die Mädchen alle wieder.
    »Wir wohnen alle in deinem Garten«, sagten sie zu ihm. »Jedes Jahr werden wir von bösen Winden übel gequält und haben darum immer die achtzehn Tanten gebeten, uns zu beschützen. Gestern wurden sie von der Punica beleidigt, und wir fürchten, dass sie uns künftig nicht mehr helfen werden. Wir wissen aber von dir, dass du uns Schwestern schon immer freundlich zugetan warst, wofür wir dir von Herzen dankbar sind. Wir haben nun eine große Bitte, dass du jedesmal am Neujahrstag eine kleine, scharlachrote Flagge machst und darauf Sonne, Mond und die fünf Planeten malst und sie im Osten des Gartens aufstellst. Dann haben wir Schwestern Frieden und sind vor allem Leid geborgen. Da diesmal aber Neujahr schon vorüber ist, so bitten wir dich, dass du sie am einundzwanzigsten dieses Monats aufrichtest; denn da kommt der Ostwind, und durch die Flagge sind wir dann geschützt.«
    Der Gelehrte versprach es ihnen bereitwillig, und die Mädchen sagten wie aus einem Munde: »Wir danken dir für deine große Güte und wollen’s dir vergelten.« Damit schieden sie, und ein süßer Duft erfüllte den ganzen Garten.
    Der Gelehrte aber machte eine solche rote Flagge, und als an dem genannten Tage frühmorgens tatsächlich der Ostwind zu wehen anfing, da stellte er sie schnell im Garten auf.
    Plötzlich erhob sich ein wilder Sturm, der die Wälder beugte und die Bäume brach. Nur im Garten die Blumen bewegten sich nicht.
    Da merkte der Gelehrte, dass Salix die Weide war, Prunophora die Pflaume, Persica der Pfirsich und die vorlaute Punica der Granatapfel, dessen kräftigen Blüten der Wind nichts anhaben kann. Die achtzehn Zephirtanten aber waren die Geister des Windes.
    Am Abend darauf kamen die Blumenelfen alle und brachten ihm zum Dank leuchtende Blumen dar.
    »Du hast uns gerettet,« sprachen sie, ,,wir haben sonst nichts, das wir dir schenken könnten. Iss diese Blumen, so wirst du lange leben und das Alter meiden. Wenn du uns dann alljährlich schirmst, so werden auch wir Schwestern lang am Leben bleiben.«
    Der Gelehrte tat nach ihren Worten und aß die Blumen. Da verwandelte sich seine Gestalt, und er ward wieder jung wie ein zwanzigjähriger Jüngling. Im Laufe der Zeit erlangte er geheimen Sinn und ward unter die Unsterblichen versetzt.

46. Der Bergelf
    Bergelfen sind Berggeister; sie wohnen in Bäumen und Felsen und lieben es, die Menschen zu erschrecken. Es war einmal ein Gelehrter, der hatte sich in einen Bergtempel zurückgezogen, um zu studieren. An einem Sommerabend saß er im Hofe, der Kühlung genießend. Plötzlich hörte er einen Windstoß, und das Tor des Tempels fuhr weit auf. Es kam ein Ungetüm hervor, das sah aus wie ein Oger. Es war zehn Fuß hoch und setzte sich auf das Dach. Seine gespreizten Beine waren dick wie Baumstämme, sein Haar war wie ein Grasgestrüpp. Der Gelehrte versteckte sich in seinem Zimmer, machte die Tür zu und kroch auf sein Bett. Krach, da ging die Tür auf, und das Ungetüm kam herein in den von der Lampe erleuchteten

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