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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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leuchtete wie ein Glühwurm. Es kam auf den Tisch gekrabbelt. Wo es gegangen war, hinterließ es schwarze Brandspuren, gekrümmt wie die Spuren eines Regenwurms. Allmählich schlängelte es sich auf das Buch, und auch das Buch wurde schwarz. Da fiel ihm ein, dass das wohl ein Drache sein könnte. Darum brachte er es auf dem Buche vor die Tür hinaus. Er stand eine gute Weile da; aber es blieb aufgeringelt sitzen, ohne sich im mindesten zu regen.
    Da sprach der Gelehrte: »Man soll nicht von mir sagen, dass ich es an Ehrerbietung habe fehlen lassen.« Mit diesen Worten trug er das Buch zurück und legte es wieder auf den Tisch. Dann zog er Feierkleidung an, machte eine tiefe Verbeugung und geleitete es hinaus.
    Kaum war er aus der Tür, so sah er, wie es den Kopf hob und plötzlich sich streckte. Mit einem zischenden Laut flog es vom Buche auf, indem es einen leuchtenden Streifen bildete. Es wandte sich noch einmal nach dem Gelehrten um, da war sein Kopf schon so groß wie ein Faß, und sein Leib maß wohl ein Klafter an Umfang. Noch eine Schlangenwindung: da krachte ein schrecklicher Donnerschlag, und der Drache fuhr in die Lüfte.
    Der Gelehrte ging dann zurück und sah nach, welchen Weg das Tierchen gekommen war. Hin und her gingen die Spuren bis zur Bücherkiste.

52. Die Geister des gelben Flusses
    Die Götter des gelben Flusses heißen Dai-wang (Großkönig). Seit vielen hundert Jahren nämlich berichten die Flussaufseher fortwährend, dass in den Wellen des Flusses sich allerlei Ungetüme zeigten, zuweilen in der Gestalt von Drachen, zuweilen in der Form von Rindern und Pferden, und immer, wenn solch ein Wesen sich zeigt, folgt eine große Überschwemmung. So baute man denn dem Fluss entlang Tempel. Die höchsten der Flussgeister werden als Könige verehrt, die niederen als Feldherrn, und es vergeht fast kein Tag, wo nicht Opfer oder Schauspiele ihnen zu Ehren dargebracht werden. Jedesmal, wenn nach einem Dammbruch es gelingt, die Öffnung zu schließen, so entsendet der Kaiser Beamte mit Opfern und zehn Stangen großen tibetanischen Weihrauchs. Dieser Weihrauch wird in einem sehr großen Opferkessel im Tempelhof verbrannt, und die Flussaufseher und ihre Untergebenen gehen alle in den Tempel, um den Göttern für ihre Hilfe zu danken. Diese Flussgötter, heißt es, sind treue und gerechte Diener früherer Herrscher, die bei ihren Mühen um Eindämmung des Flusses gestorben sind. Nach ihrem Tode wurden ihre Geister Flusskönige; ihre leibliche Gestalt aber gleicht Eidechsen, Schlangen und Fröschen.
    Der mächtigste unter diesen Flusskönigen ist der goldene Drachenkönig. Er erscheint häufig in der Gestalt einer kleinen goldenen Schlange mit viereckigem Kopfe, niedriger Stirn und roten Punkten über den Augen. Er kann sich nach Belieben groß und klein machen und kann das Wasser steigen und fallen lassen. Unversehens erscheint und verschwindet er. Er lebt an den Mündungen des gelben Flusses und des Kaiserkanals. Außer ihm gibt es aber noch Dutzende von Flusskönigen und Feldherrn, von denen jeder seinen bestimmten Platz hat. Die Schiffer auf dem gelben Flusse haben alle ausführliche Listen, in denen das Leben und die Taten dieser Flussgeister einzeln aufgeführt sind.
    Einer dieser Flusskönige heißt der Stauer. Vor zweihundert Jahren hatte der gelbe Fluss ein Loch in den Damm gerissen, und immer wenn es gerade daran war, dass man die Öffnung zufüllte, brach das Wasser wieder durch. Der Flussaufseher ging in den Tempel zu beten. Da hatte er bei Nacht einen Traum.
    Er hörte eine Stimme, die sprach: »Der Stauer muss kommen, dann erst wird es gehen. Der ist ein Knabe aus dem Volk und heuer dreizehn Jahr alt.«
    Als der Aufseher erwachte, da wunderte er sich über den Traum.
    Eines Tages ging er wieder hinaus, um die Arbeit an den Dämmen zu beaufsichtigen. Abends kam er zurück.
    Da hörte er plötzlich eine Frau rufen: »Stauer, komm!«
    Sofort hieß er nachfragen, und es stellte sich heraus, dass das der Name eines armen Knaben war, den seine Mutter zum Abendessen gerufen hatte. Er kaufte ihn seinen Eltern ab für dreißig Lot Silber, und am anderen Tag wurde Stauer mit hinaus genommen an den Fluss. Man warf ihn in das Wasser, und Tausende von Arbeitern mussten sofort Erde darüber schütten. Im Augenblick hatte sich die Öffnung im Damm geschlossen und die Strudel beruhigt. Dann aber sah man mitten im Fluss eine ungeheure Hand hervor tauchen, die war wohl ein paar Klafter lang. Die Menge der Arbeiter

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