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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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schrie vor Entsetzen auf. Der Flussaufseher aber und seine Beamten warfen sich auf die Knie und beteten. Daraufhin wurde der Knabe zum Flussgott ernannt.
    Vor etwa hundert Jahren riss der gelbe Fluss abermals ein Loch in die Dämme. Dem Flussaufseher wurde zur Strafe sein Rangknopf genommen, und er ward verurteilt, den Damm wieder auszubessern. Aber die Öffnung schloss und schloss sich nicht. Der Mann war treu und ehrlich und beaufsichtigte Tag und Nacht die Arbeit. Immer, wenn man gerade dabei war, die letzte Öffnung zuzuschütten, da sank der Damm wieder zusammen, und das Wasser brach aufs Neue durch. Starr stand der Beamte daneben, ohne sich zu regen. Seine Diener mussten ihn beim Arme nehmen und nach Hause führen.
    Es war Abend geworden, und die Flussarbeiter hatten sich zerstreut. Da schlich er sich heimlich aus dem Hause und stürzte sich in den Fluss. Seine Diener eilten ihm nach, erreichten ihn jedoch nicht mehr. Am Tag darauf schloss sich der Dammbruch. Die Tat ward später bei Hofe bekannt, und der Beamte ward zum Feldherrn des gelben Flusses ernannt.
    Die Flussgeister lieben es, Schauspielen zuzusehen. Jedem Tempel gegenüber ist eine Schaubühne errichtet. In der Halle steht das Geistertäfelchen des Flusskönigs, auf dem Altar davor eine kleine Goldlackschale mit reinem Sand gefüllt. Wenn man darin ein Schlänglein erblickt, so ist der Flusskönig da. Die Priester schlagen dann die Glocke und rühren die Pauke und lesen aus den heiligen Büchern vor. Sofort wird dem Beamten Nachricht überbracht, und er bestellt eine Schauspielertruppe. Vor Beginn des Spiels steigen die Schauspieler zum Tempel empor, beugen ein Knie und bitten den König, ein Spiel zu bezeichnen; dann sucht der Gott eines aus und deutet mit dem Kopf darauf. Sonst schreibt er wohl auch mit dem Schwänze Zeichen in den Sand. Die Schauspieler beginnen dann sofort mit dem gewünschten Stück.
    Er fragt nicht nach Glück und Unglück der Menschen. Plötzlich kommt er, plötzlich geht er, wie es ihm gefällt.
    »Es war einmal ein Bauer, der ging mit seinem Schubkarren auf den Markt. Plötzlich erschien der Flusskönig auf dem Strohhut des Bauern, ohne dass dieser es merkte. Die Leute, die ihm auf der Straße begegneten, riefen ihm zu und verneigten sich vor dem Gott. Darauf wurde der Strohhut in den Tempel gebracht und ein Schauspiel gegeben.
    Zwischen dem äußeren und dem inneren Damm des gelben Flusses sind viele Ansiedlungen. Oft kommt es nun vor, dass das gelbe Wasser bis an den Rand der inneren Wälle geht. Senkrecht aufgerichtet wie eine Mauer, so rückt es allmählich vor. Wenn die Leute es sehen, so verbrennen sie schleunigst Weihrauch und verneigen sich betend gegen das Wasser und versprechen dem Flussgott ein Schauspiel. Dann zieht das Wasser sich zurück, und es geht die Rede: »Der Flussgott hat wieder ein Schauspiel verlangt.«
    In jener Gegend steht ein Dorf. Da wohnte einst ein reicher Mann. Der baute rings um das Dorf eine steinerne Mauer, zwanzig Fuß hoch, um das Wasser abzuhalten. Er glaubte nicht an die Flussgeister, sondern verließ sich auf die feste Mauer und war ganz unbesorgt.
    Eines Abends kam plötzlich das gelbe Wasser heran und stand senkrecht vor dem Dorfe. Der Reiche ließ mit Kanonen darnach schießen. Da wuchs das Wasser wild und umgab rings die Mauern so hoch, dass es bis an die Öffnungen der Zinnen reichte. Das Wasser brauste und zischte und war nahe daran, sich über die Mauern zu ergießen. Da geriet das ganze Dorf in großen Schrecken. Man schleppte den reichen Mann herbei; er musste niederknien und um Verzeihung bitten. Man versprach ein Schauspiel, es half nichts; man versprach dem Flussgott einen Tempel zu bauen mitten im Dorfe und regelmäßig Schauspiele aufzuführen, da sank das Wasser nach und nach und wich zurück. Das Getreide vor dem Dorf hatte keinen Schaden erlitten; sondern es gab, gedüngt von dem gelben Schlamme, eine doppelte Ernte.
    Ein Gelehrter ging einst mit einem Freunde über Feld, um seine Verwandten zu besuchen. Da kamen sie an einem Flussgott-Tempel vorbei, wo gerade ein neues Schauspiel gegeben wurde. Der Freund forderte ihn auf, mit hinzugehen und sich die Sache anzusehen. Sie traten in den Tempelhof, da sahen sie oben an den beiden Vordersäulen zwei grüne Schlangen, die sich um die Säulen gewickelt hatten und den Kopf hervor streckten, als sähen sie dem Schauspiel zu. In der Tempelhalle stand der Altar mit der Sandschale. Darin lag ein Schlänglein mit goldenem Leib,

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