Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
zu sehen.«
In dem Lager war eine Musikkapelle; die Leute konnten singen und tanzen wie eine richtige Schauspielertruppe. Der Hauptmann ließ schleunigst ein Schauspiel beginnen und richtete ein anderes Festmahl mit Wein und köstlichen Speisen her und bat den Flussgott, Platz zu nehmen.
Es ward allmählich Abend, und der Flussgott machte noch keine Miene, zu gehen.
Da trat der Hauptmann mit einer Verbeugung zu ihm und sprach: »Wir sind hier weit vom gelben Fluss entfernt, und die Leute haben noch nie Euren Namen nennen hören. Es war mir eine große Ehre, dass Ihr mich besucht habt. Aber die Weiber und Toren, die sich da gaffend versammelt haben, fürchten sich, von Euch zu hören. Ihr habt nun Euren alten Freund ja besucht und mögt nun wieder zurückkehren.«
Mit diesen Worten ließ er eine Sänfte kommen; man schlug die Pauken und verbrannte Feuerwerk, schließlich schoß man noch neun Kanonenschüsse ab, um ihm das Geleite zu geben. Da stieg das Schlänglein in die Sänfte, und der Hauptmann folgte hinten nach. So kam man an den Hafen, und als man eben Abschied nehmen wollte, da schwamm die Schlange schon im Wasser. Sie war viel größer geworden als vorher, nickte dem Hauptmann mit dem Kopfe zu und verschwand.
Da gab’s ein Zweifeln und Fragen: »Der Flussgott wohnt doch tausend Meilen weit von hier, wie kommt er denn hierher?«
Der Hauptmann aber sprach: »Der ist so mächtig, dass er überallhin kann, und außerdem führt ja von dort ein Wasserweg ins Meer. Diesen Weg herunterzukommen und durchs Meer zu schwimmen, das bringt der im Augenblick fertig.«
53. Die Drachenprinzessin
Im Dungting-See ist ein Berg. In dem Berge ist ein Loch. Es ist so tief, dass es keinen Boden hat.
Einst ging ein Fischer dort vorüber, der glitt aus und fiel hinein. Er kam in eine Gegend voll gewundener Wege, die über Berg- und Talhänge führten mehrere Meilen weit. Schließlich kam er an ein Drachenschloß, das auf einer großen Ebene lag. Dort gab es grünen Schlamm, der reichte ihm bis an die Knie. Er ging zum Tor des Schlosses. Ein Drache bewachte es; der spie Wasser, das in lichten Nebel zerstäubte. Innerhalb des Tores war ein kleiner, ungehörnter Drache, der hob den Kopf und zeigte ihm die Krallen und ließ ihn nicht hinein.
Der Fischer brachte mehrere Tage in der Höhle zu. Er stillte seinen Hunger mit dem grünen Schlamm, der wie Reisbrei schmeckte. Schließlich fand er sich wieder heraus. Er erzählte, was ihm begegnet, dem Amtmann; der berichtete die Sache an den Kaiser. Der Kaiser berief einen Weisen und befragte ihn darüber.
Der Weise sprach: »Diese Höhle hat vier Gänge. Der eine Gang führt an das Südwestufer des Dungting-Sees, der zweite Gang führt in ein Tal des Vierstromlandes, der dritte Gang mündet in einer Höhle des Lofu-Berges, der vierte auf einer Insel im Ostmeer. In dieser Höhle wohnt die siebente Tochter des Drachenkönigs vom Ostmeer, die über seine Perlen und Schätze wacht. Vor alter Zeit traf es sich einmal, dass ein Fischerknabe ins Wasser tauchte und eine Perle unterm Kinn eines schwarzen Drachens hervorbrachte. Der Drache hatte geschlafen; darum hatte der Knabe die Perle unverletzt herauf gebracht. Die Schätze nun, die die Drachentochter in Verwahrung hat, sind Tausende und Millionen solcher Kleinodien. Einige tausend kleiner Drachen behüten sie in ihrem Dienste. Die Drachen haben die Eigenheit, dass sie das Wachs scheuen. Sie lieben schöne Jaspissteine und Hohlgrün und essen gern Schwalben. Wenn man einen Boten sendet mit einem Brief, so kann man kostbare Perlen erhalten.«
Der Kaiser war hoch erfreut und setzte eine große Belohnung aus für den, der fähig sei, als Bote in das Drachenschloss zu gehen.
Erst meldete sich ein Mann, namens So Pi-Lo. Der Weise aber sprach: »Ein Urahn vor dir hat einmal über hundert Drachen des Ostmeers getötet und wurde schließlich von den Drachen umgebracht. Die Drachen sind deinem Geschlecht feind, du darfst nicht gehen.«
Dann kam ein Mann aus Kanton, Lo Dsï-Tschun, mit zwei Brüdern, der berichtete, dass Vorfahren von ihm mit dem Drachenkönig verschwägert gewesen seien. Sie seien daher mit den Drachen auf gutem Fuß und wohlbekannt und bäten, die Botschaft übernehmen zu dürfen.
Der Weise fragte: »Habt Ihr den Stein noch, der die Drachen zwingt?«
»Ja,« sprachen sie, »wir haben ihn hier mitgebracht.«
Der Weise ließ sich den Stein zeigen; dann sprach er: »Dieser Stein taugt nur, den Drachen, der Wolken macht und
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