Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
grünem Kopfe und roten Punkten auf der Stirn. Es hatte den Hals empor gereckt, und seine blitzenden Äuglein waren unverwandt nach der Schaubühne gerichtet. Der Freund verneigte sich, und der Gelehrte tat es ihm nach.
Leise fragte er dann seinen Freund: »Wie heißen denn die drei Flussgötter?«
»Der im Tempel«, war die Antwort, »ist der goldene Drachenkönig. Die beiden auf den Säulen sind zwei Feldherren. Sie wagen es nicht, mit dem König zusammen im Tempel zu sitzen.«Der Gelehrte verwunderte sich darob und dachte in seinem Herzen: »Solch ein kleines Schlänglein! Wie kann das Götterkraft besitzen! Es müsste erst seine Macht beweisen, ehe ich es verehre.«
Noch hatte er diese geheimen Gedanken nicht ausgesprochen, da sah er plötzlich, wie das Schlänglein in der Schale den Kopf über den Altar herausstreckte. Vor dem Altar brannten zwei riesige Kerzen. Sie waren über zehn Pfund schwer und dick wie kleine Bäume. Ihr Feuer brannte wie Fackelschein. Die Schlange streckte nun den Kopf mitten in die Kerzenflamme hinein. Die Flamme war wohl einen Zoll breit und brannte rot. Plötzlich wurde ihr Schein blau und teilte sich in zwei Zungen. So riesig war die Kerze und so heiß das Feuer, dass auch Kupfer und Eisen darin geschmolzen wären; aber der Schlange tat es nichts.
Dann kroch sie in den Weihrauchkessel. Der Weihrauchkessel war von Eisen, so groß, dass man ihn mit beiden Armen eben umfassen konnte. Der Deckel zeigte in durchbrochener Arbeit ein Drachenornament. Die Schlange kroch durch die Löcher dieses Deckels hin und her und wand sich durch alle durch, so dass es aussah wie eine Stickerei von Goldfäden. Schließlich waren alle Öffnungen des Deckels, groß und klein, von der Schlange durchzogen. Sie musste sich dazu wohl mehrere Dutzend Fuß lang gemacht haben. Dann streckte sie den Kopf oben heraus und sah dem Schauspiel weiter zu.
Da erschrak der Gelehrte, verneigte sich zweimal und betete: »Großer König, du hast dich meinethalben bemüht. Ich ehre dich von Herzen.«
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, da war im Augenblick das Schlänglein wieder in der Schale und war so klein als wie zuvor.
In Dsiningdschou wurde im Tempel des Flussgottes Geburtstag gefeiert. Man brachte dem Gott als Geburtstagsgeschenk ein Schauspiel dar. Die Zuschauer standen dicht gedrängt wie eine Mauer. Da kam ein einfältiger Bauer vom Lande vorüber, der sprach mit lauter Stimme: »Das ist doch nur ein ganz kleiner Wurm. Es ist eine große Dummheit, den als König zu verehren!«
Aber ehe er fertig gesprochen hatte, da flog die Schlange aus dem Tempel heraus. Sie wuchs und wuchs und wickelte sich dreimal um die Schaubühne. Sie ward dick wie ein großer Eimer, und ihr Haupt glich einem Drachen. Die Augen sprühten wie goldene Lampen, und mit der Zunge spie sie rote Flammen aus. Sie streckte sich und zog sich wieder zusammen, da zitterte die Schaubühne, und es sah aus, als wollte sie einstürzen. Die Schauspieler unterbrachen die Musik und fielen auf der Bühne anbetend nieder. Die ganze Menge ward von Entsetzen gepackt und verneigte sich zur Erde. Dann kamen einige Älteste, die warfen den Bauer zu Boden und peitschten und pufften ihn halbtot. Da warf er sich vor der Schlange nieder und betete zu ihr. Es entstand ein Geräusch, wie wenn heftiges Feuerwerk abgebrannt würde. Das dauerte eine geraume Zeit, dann war die Schlange verschwunden.
Im Osten von Schantung liegt die Stadt Döngdschoufu. Dort ist ein Aussichtsturm mit großem Tempel. Zu seinen Füßen liegt die Wasserstadt, die hat im Norden ein Meertor, zu dem die Flut bis in die Stadt hereinkommt. Ein Lager der Strandwache liegt an diesem Tore.
Es war einmal ein Offizier, der war als Hauptmann hierher versetzt worden. Er gehörte früher zum Landheer und war noch nicht lange auf diesem neuen Posten. Er gab einigen Freunden ein Gastmahl. Vor dem Pavillon lag ein großer Stein, der hatte die Form eines Tisches. Plötzlich sah man auf diesem Stein ein Schlänglein sich ringeln, das war grün gefleckt und hatte auf dem viereckigen Kopfe rote Punkte. Die Soldaten wollten das Tierchen töten. Der Hauptmann ging hinaus, um nach der Sache zu sehen.
Dann sprach er lachend: »Ihr dürft ihm nichts tun! Das ist der Flusskönig von Dsiningdschou. Als ich in Dsiningdschou stand, hat er mich manchmal besucht, und ich habe ihm zu Ehren dann immer Opfer und Schauspiele dargebracht. Nun kommt er eigens her, um mir Glück zu wünschen und nach seinem alten Freunde
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