Märchen, Der Falke unter dem Hut ab 9 Jahre
nieder: „Majestät, erlaßt es mir, den Kern zu pflanzen, denn sicher habe ich irgendwann einmal Unrecht getan, meine Nachbarn beleidigt, meine Frau verprügelt. Wie soll ich unter dem Gespött der Leute ruhig weiterleben?“ Der als Dieb angeklagte arme Mann blickte scheinbar erstaunt auf all die hohen Herren, verneigte sich tief vor dem Herrscher und sprach: „O König, wer hätte das vorausahnen können? So wird aus diesem Zauberkern wohl niemals ein Baum wachsen, der goldene Früchte trägt.“ Dann aber richtete er sich auf, und seine Stimme klang streng: „Dieser winzige Kern hat sichtbar gemacht, daß niemand in diesem Kreise frei von Schuld ist. Alle nehmen, was ihnen nicht gehört, sie stehlen und unterschlagen und erfreuen sich doch Eurer Gnade. Keiner verbrachte auch nur einen einzigen Tag in dem düsteren Kerker, in dem ich schmachten muß. Dabei habe ich nur eine Tabakspfeife aufgehoben, weil ich arm bin und mir keine kaufen kann. Warum soll ich als einziger bestraft werden?“
Der König hatte mit finsterer Miene den Worten des Mannes zugehört. Als er sah, daß seine Ratgeber und Hofleute die Blicke senkten, blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Armen die Freiheit zurückzugeben.
Ilse Korn
Der filzige Lars
Ein Märchen aus Dänemark
Es war einmal ein alter Junggeselle, der hieß Lars Larsen. Zwar besaß er einen guten Bauernhof, aber er hatte stets gemeint, daß er nicht die Mittel habe, sich zu verheiraten. Er war nämlich so geizig, daß er sich und auch den andern kaum das Nötigste gönnte. Aber er brauchte Leute für den Betrieb des Hofes, und die wollten und mußten etwas zu essen haben.
Lars war niemals froh, obwohl er reich und reicher wurde; denn er meinte, es gehe zuviel in der Wirtschaft drauf. Endlich kam er auf den Gedanken, es möchte sich wohl bezahlen, eine Frau zu haben, welche den Haushalt besorgt, wenn er nur eine bekommen könnte, die selbst nichts verzehrt.
Eines Tages sprach Lars mit seinem Kätner darüber, und der schrieb sich das hinters Ohr. Als er nach Hause kam, sagte er zu seiner Tochter, die Grete hieß: „Wenn du morgen den Hofbauern hier vorüberkommen siehst, so mußt du die Gänse hinaustreiben und sie hüten, dann sage: ,Geh, kleine Gans, für den, der nichts ißt!“ Er wird dich gewiß fragen, wer das sei, der nichts ißt. Darauf antworte: ,Das bin ich! Mein Vater ist ein armer Mann und hat viele Kinder, so daß er mir nichts zu essen geben kann, aber drinnen in der Stube steht ein Pfosten, in den hat Vater einige Löcher gebohrt. Ab und zu gehe ich hin, gähne über ihnen und schnappe einen Mundvoll Luft; davon lebe ich.'“
Es ging, wie der Kätner gedacht hatte: Am nächsten Morgen kam Lars Larsen auf dem Weg zum Feld an ihrem Hause vorüber. Da trieb Grete die Gänse hinaus und hütete sie.
„Geh, kleine Gans, für den, der nichts ißt!“ sagte sie.
Das hörte Lars, und er fragte: „Wer ist das, der nichts ißt?“
„Ach, das bin ich“, antwortete Grete; „denn mein Vater ist ein armer Mann und hat viele Kinder, so daß er mir nichts zu essen geben kann.“
„Wovon lebst du denn dann?“ fragte Lars.
„In unserer Stube steht ein Pfosten“, erwiderte das Mädchen, „in den hat mein Vater einige Löcher gebohrt. Ab und zu gehe ich hin, gähne über ihnen und schnappe einen Mundvoll Luft; davon lebe ich.“
„Höre, mein liebes Kind“, sagte der Hofbauer, „hättest du nicht Lust, mich zu heiraten und Hofbäuerin zu werden?“
„O ja!“ antwortete Grete, und so hielten sie Hochzeit, und sie zog auf den Hof. Lars stellte einen Pfosten in der Stube auf und bohrte einige Löcher hinein, zu denen sie hingehen und gähnen konnte, wenn sie hungrig war.
Wenn der alte Lars am gedeckten Tisch saß, setzte sich die junge Frau Grete wohl zu ihm, doch sie rührte keinen Bissen an.
Als einige Zeit vergangen, sprach der Hofbauer zu seinem Knecht, der Niels hieß: „Höre, Niels, ich weiß nicht recht, ob unsere Bäuerin nicht doch ißt, denn mich dünkt, sie wird von Tag zu Tag runder. Kannst du mir nicht sagen, wie ich dahinterkommen soll?“
„Ich weiß nicht“, meinte Niels; „es müßte denn sein, daß ich Euch in den Schornstein hinunterließe, dann könntet Ihr ja sehen, ob sie in der Küche etwas ißt.“ Das deuchte dem Manne gut, und der Knecht ließ ihn in den Schornstein hinab. Dort hing er wie die anderen Schafskeulen.
Aber dann ging Niels zu der Frau und sagte: „Nehmt Euch in acht, daß Ihr draußen in der
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