Märchen, Der Falke unter dem Hut ab 9 Jahre
„Das ist doch ein ganz gewöhnlicher Birnenkern!“
„Verzeiht, o Herr, kein gewöhnlicher, es ist ein ganz besonderer Birnenkern. Wer ihn sät, der erntet im gleichen Jahr Birnen aus reinem Gold.“
Der Kaiser schüttelte verwundert den Kopf und fragte: „Und warum hast du diesen wunderbaren Kern nicht selbst in die Erde gelegt? Sehr wohlhabend siehst du nicht aus.“
Schuldbewußt sagte der Arme: „Es wäre Torheit, wenn ich ihn in die Erde legte, denn mir brächte er nichts anderes ein als gewöhnliche Holzbirnen. Eine Bedingung muß erfüllt sein, o König. Dieser Kern ist nur für ehrliche und lautere Menschen bestimmt, die weder gestohlen noch unterschlagen haben und die sich nicht aneignen, was anderen gehört. Nur für sie trägt der Baum goldene Birnen. Ich stehe vor Euch als ein armer Mann, der eine Tabakspfeife aufhob, die ihm nicht gehörte. So wurde ich von einem Eurer Beamten als Dieb ins Gefängnis geworfen. Da Gott Euch auf diesen Thron gesetzt hat, den Menschen zum Vorbild, müßt Ihr, hoher Herrscher, ehrlich und lauter sein. Euch kann niemand nachsagen, Ihr hättet Euch angeeignet, was einem anderen gehörte. Darum nehmt diesen Birnenkern, ich schenke ihn Euch.“
Kaum hielt der König den Kern in seiner Hand, da brannte er ihn wie Feuer. Er erinnerte sich, daß er schon als Kind seinen Spaß daran gehabt hatte, anderen das wegzunehmen, was er selber gern besitzen wollte. Und war es jetzt nicht noch immer so? Hatte er nicht vor wenigen Tagen die schöne Frau eines Untertanen entführen lassen und sie zu seiner Nebenfrau gemacht? Gehörte nicht sein edles Jagdpferd einstmals einem Bauern? Nein, er durfte sich nicht darauf einlassen, diesen Birnenkern auszusäen. So blickte er sich im Kreise seiner Hofbeamten und Ratgeber um und entdeckte den Schatzkanzler. Huldvoll sagte er zu ihm: „Mein alter ehrenwerter Kanzler, Ihr seid der treue Verwalter meiner Güter. Schon immer wollte ich Euch für Eure zuverlässigen Dienste belohnen. Heute ist der Tag gekommen. Nehmt diesen wunderbaren Kern. Legt ihn in die Erde Eures Gartens. Da Ihr aufrichtig und unbestechlich seid, wird sich das Wunder vollziehen. Wenn er goldene Birnen trägt, so bitte ich Euch, mir eine zum Andenken zu bringen.“
Der Schatzkanzler erblaßte. Soll ausgerechnet ich mich vor aller Welt bloßstellen, war sein erster Gedanke. Hatte er nicht schon mehrmals einen Griff in die königliche Schatztruhe getan, um sich zu bereichern? War nicht allen Anwesenden bekannt, daß er nur jene zu Beamten beförderte, die ihm reiche Geschenke machten? Jetzt fühlte er, wie sich ihm die Augen der Mandarine voller Schadenfreude zuwandten. Was würde geschehen, wenn das Wunder der Verwandlung ausblieb? Darum verneigte er sich vor dem König und sagte: „Eure Huld und Güte ehren mich, Majestät, doch diese hohe Gunstbezeigung kommt mir nicht zu. Wolltet Ihr nicht schon längst Euren tapferen und getreuen General auszeichnen? Darum erlaubt, daß ich ihm den kostbaren Birnenkern übergebe.“
Damit legte er den unscheinbaren Kern rasch in die Hand des Generals, der vor Schreck einige Schritte zurückwich.
„Aber nein, nein, nein“, stammelte dieser. „Nicht ich! Ich bin doch ein alter Kriegsmann, und allzu lauter geht es bei unserem Handwerk leider nicht zu. Da reißt sich mancher etwas unter den Nagel, was ihm nicht gehört. Das ist nun mal nicht zu ändern.“
Daß der General die Hälfte der Löhnung seiner Soldaten in die eigene Tasche steckte, bekannte er natürlich nicht. Doch die Hofleute wußten es ohnehin und lächelten spöttisch.
Jetzt schlug der arme Mann den Obersten Richter vor, von dem jedermann wußte, wie bestechlich und ungerecht er war.
Aber auch jener verstand es geschickt, den Kern weiterzureichen. Bei dem schwierigen Rechtsgeschäft könne ihm doch einmal ein Fehler unterlaufen. Nein, er wolle nicht Gottes Zorn hervorrufen.
Auch der Vorsteher des Gefängnisses sträubte sich, die Kostbarkeit zu behalten.
Es war bekannt, wie grausam er seine Gefangenen behandelte, und darum leicht vorauszusagen, daß bei einem solchen Bösewicht der Baum niemals goldene Früchte tragen würde.
So war der Birnenkern von einer Herrenhand in die andere gewandert und landete schließlich bei dem Gefängniswärter, der den armen Mann vor den Königsthron gebracht hatte.
Doch auch der weigerte sich, die Kostbarkeit anzunehmen, denn er fürchtete, seine Bestechlichkeit würde auf diese Weise offenbar. Er fiel laut klagend vor dem Thron
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