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Märchen von den Hügeln

Titel: Märchen von den Hügeln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waltraut Lewin & Miriam Magraf
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immer hoch über der Stadt hing.
    Lindo sammelte einige Kisten auf, die heruntergerutscht waren, zum Glück aber keinen Schaden genommen hatten, und setzte seinen Weg fort. Vor Adalberts Tür machte er halt.
    Gemeinsam schleppten sie die Kisten hinunter. Was denn darin sei? wollte der Zwerg wissen, aber Lindo ging auf seine drängenden Fragen nicht ein. Sie schafften ihre Last in den Raum mit dem Großen Uhrwerk.
    Beim Anblick des Baumwuchses, der das Getriebe wieder erheblich behinderte, heulte der Zwerg auf und machte sich besessen daran, das Grünzeug wegzureißen.
    Währenddessen packte Lindo aus: gebündelte Kunststoffplatten, Planen, selbstklebende Dichtungsstreifen und Sprayflaschen. Die Etikette der Serie glichen sich. Sie trugen die Aufschrift »Antidröhn - die garantiert sicheren Isoliermittel gegen Lärmbelästigung jeder Art«. Aus einem anderen Karton holte Lindo Präparate zur Unkrautbekämpfung hervor: Gifte und Herbizide, dazu Schaufeln und eine Spitzhacke.
    Adalbert betrachtete die ausgebreiteten Dinge und schluchzte gerührt.
    Der Halbelb klatschte in die Hände. »Nun denn, an die Arbeit! Erst das . . .«, er wies auf die Gartengeräte, ». . . und dann das Antidröhn.« Sie arbeiteten bis spät in die Nacht. Jeder grüne Zweig, jeder Grashalm war einzeln und mit Sorgfalt auszureißen, zu vergiften, zu zertreten.
    Lindo mußte mehrmals fliehen, um sich von den ungesunden Dünsten, die aus den bestäubten und besprühten Felsspalten drangen, zu erholen. Adalbert hingegen kroch in die letzten Winkel des Uhrwerks, um sie gründlich vom Grünen zu säubern. Ein Wunder, daß ihn die Zahnräder nicht erfaßten.
    Als alles Wachsende vernichtet war, machten sie sich daran, Wände, Decke und Boden mit den isolierenden Platten und Planen zu verkleiden. Sie hämmerten und klopften, bis Lindo ganz taumelig wurde. Zum Schluß verklebten sie die Fugen und Ecken mit Dichtungsstreifen und sprühten eine blasentreibende Masse, die sich schnell verfestigte, in die letzten Ritzen und sicherheitshalber über die gesamte Wandfläche, um sie gleichsam zu versiegeln.
    Endlich war die Arbeit getan. Erschöpft lagen beide in Adalberts Zimmer - der Zwerg in der finstersten Ecke, Lindo auf dem Bord des geöffneten Fensters, wo er das Rauschen des Waldes hörte. Bald würde es tagen. Die Uhr arbeitete präzise.
    Adalbert schlief erlöst, während sich Lindo am Morgen von der alten, rumpelnden Straßenbahn ins Stadtzentrum transportieren ließ. Er hatte heute ein Chorsolo zu singen und versuchte, ein paar Töne zu summen, doch den Nasenlöchern entwich nur ein heißer Luftstrom. Die Vokale formten sich hartnäckig zu heiseren Krächzlauten um.
    Das sieht ja bös aus, dachte er. Und Klinger gibt die Titelpartie!
    Der Dirigent bestand darauf, das Bariton-Solo zu wiederholen. Der Chorist erwies sich entweder als unbegabt oder als indisponiert.
    Die Sopranistin gähnte, die Altistin blickte auf die Uhr, der Bassist räusperte sich zum fünften Male ungebührlich laut, und Klinger grinste.
    Lindo stand mit hochrotem Kopf, die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Er stammelte entschuldigend, er sei heiser, und trat zurück in die Reihe. Betretenes Schweigen herrschte. Dann erhob sich Klinger, noch immer lächelnd, erklärte, daß man die Chorproben doch wohl auch ohne ihn abzuhalten imstande wäre, und verließ leichten Schrittes den Saal.
    Nach der blamablen Probe hatte Lindo nichts Eiligeres zu tun gehabt, als sich krank zu melden. Nun lag er am Ufer des Stroms im Schatten eines Weidenbaums und blinzelte in die Abendsonne. Ein ausgiebiger Mittagsschlaf hatte ihn erquickt. Er fühlte sich gestärkt, und sogar die Lust zum Singen kehrte ihm zurück. Es war schön, unter dem sommerlich blauen Himmel zu liegen und zu spüren, wie einem der Wind sanft durchs Haar fährt.
    Ein rechtes Wetter für Verliebte, sagte sich Lindo und stimmte ein altes Lied an: »Mein G’müt ist mir verwirret, das macht ein Jungfrau zart. . .« Als er weitersang und es hieß: »Wann ich’s anschau, vermein ich, ich sei im Paradeis . . .«, fiel plötzlich eine zweite Stimme ein. Erschrocken setzte er sich auf und blickte sich nach dem anderen um, der so geräuschlos dahergekommen war.
    Klinger, mit einem weiten Obergewand, halb elbisch, halb irdisch leger gekleidet, blickte freundlich. »Warum hörst du auf zu singen?« fragte er und ließ sich neben Lindo ins Gras nieder.
    »Müssen Sie heute nicht das Konzert geben?« fragte Lindo.
    »Ich habe abgesagt.«

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