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Märchen von den Hügeln

Titel: Märchen von den Hügeln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waltraut Lewin & Miriam Magraf
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schaffen?« fragte Lindo.
    Adalbert winkte ihn näher und wies mit finsterer Miene auf ein Zahnrad in der Nähe der Wand. Ein junger Baum wuchs dort aus einem Mauerspalt, wuchs hinein in das sich drehende Geräder und behinderte seinen Lauf. Allerorten bot sich ein ähnliches Bild. Lindos Auge entdeckte rundum Büsche und hellgrünes Blattwerk, das die Maschine einspann, allmählich, wie eine Spinne die Beute zu umgarnen pflegt. Der Anblick der furchterregenden Apparatur, die so sanft eingewoben wurde, machte Lindo lächeln.
    Plötzlich hakte sich ein Zweig in ein Rad und brachte es zum Stocken. Mit einem Aufschrei stürzte der Zwerg hinzu und riß den jungen Baum heraus, ohne zu beachten, in welche Gefahr er sich selbst begab, wenn er mit dem Arm durch die riesigen Speichen langte. Er schleuderte den Entwurzelten von sich, und in einem Anfall von Raserei zerfetzte er das munter sprießende Grünzeug überall, wo er es erreichen konnte.
    »Hast du es gesehen?« schrie er. »Hast du gesehen, wie es die Uhr zerstört! Nichts, nichts wird mehr sein, wie es war, wenn sie kaputt ist. Weder Tag noch Nacht wird es geben, alles gleich, immer gleich!« Er ließ sich vor Lindo auf den Boden fallen und weinte bitterlich. Der wußte nicht, was tun.
    Als sich Adalbert ausgeschluchzt hatte, erhob er sich ächzend und sagte heiser: »Komm, dir gefällt es hier nicht, wie ich merke. Gehen wir hinauf. Dort erkläre ich dir alles.«
    Sie saßen im Wohnzimmer der Zwergenbehausung, die gar nicht so klein war, wie man annehmen möchte. Lindo fühlte sich noch immer benommen und lag mehr im Sessel, als er saß, während Adalbert auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz genommen hatte.
    »Ist dir nichts aufgefallen, als du herkamst?« erkundigte er sich.
    »Doch«, Lindo hob träge den Kopf. »Der Tag schien mir länger geworden zu sein.«
    »Das ist es!« kreischte der Zwerg auf. »Ich hatte heute noch nicht gejätet! Und jetzt zu dir. Wozu ich dich brauche . . .«
    Sofort war der Halbelb aufmerksam bei der Sache.
    »Du mußt mit dem Elben oben verhandeln.«
    Lindo pfiff durch die Zähne. »Dem Herrn Kammersänger?«
    »Ja, mit Klinger.« Adalbert begann wieder zu schluchzen, und Lindo reichte ihm ein Taschentuch, das jener dankbar annahm.
    »Er ist nämlich an allem schuld.« Der Zwerg machte eine Pause, um sich zu beruhigen, während Lindo geduldig wartete. Dann fuhr er fort: »Seit er sich verliebt hat, ist sein Gesinge unerträglich geworden. Er nimmt auf niemand Rücksicht, singt und singt, und überall tiriliert es und tanzt und blüht und wächst. . .«
    Ein heftiger Weinkrampf schüttelte den Zwerg.
    Das rührte Lindo so sehr, daß auch ihm die Tränen in die Augen traten.
    ». . . wächst«, wimmerte Adalbert, »dieses verdammte Grünzeug eben auch. Und sogar hier unter der Erde, wohin nie ein 

    Samenkorn drang. Ich reiße es aus, aber es hilft nichts. Schon am nächsten Morgen ist es wieder da und macht die große Uhr kaputt, wächst, wächst. . .«
    »Und du meinst, ich könnte bei Klinger etwas erreichen?« fragte Lindo skeptisch.
    Der Zwerg schneuzte sich. »Wer, wenn nicht du! Zumindest bist du seinem Volk verwandt und außerdem am selben Haus engagiert.«
    »Aber nur als Chorist«, gab Lindo verstimmt zurück.
    Adalbert sah ihn mit großen, verzweifelten Augen an.
    »Nun gut, ich lasse mir was einfallen«, seufzte Lindo und erhob sich, um daheim in Ruhe nachzudenken.
    Als Lindo am folgenden Abend mit einem Handwagen voller Kisten über den Berg zog, vernahm auch er die Stimme Klingers, die Busch und Gasse füllte. Statt sich mit dem Klavierauszug der heute bevorstehenden Repertoire-Vorstellung zu befassen, trällerte der Sänger im Garten eines seiner Lieblingslieder:
    »Die güldne Sonne 
    Voll Freud und Wonne 
    Bringt unsern Grenzen 
    Mit ihrem Glänzen
    Ein herzerfrischendes, liebliches Licht. . .«
    Lindo nahm schmunzelnd wahr, daß sich die Besungene wiederum nicht zum Untergehen bequemen wollte. Der milde Tag nahm schier kein Ende.
    Ein Weilchen verharrte der Halbelb vor Klingers Tor, lauschte, teils beglückt und teils verärgert, weil ihm solche Töne nicht gelangen, und zog dann mit seinem Karren weiter, den Berg hinab. Er hatte schon fast das Tal erreicht, als ein blitzender Wagen sanft surrend an ihm vorbeiflog, kaum daß es Lindo gelang, den Handwagen rechtzeitig von der Straßenmitte zu zerren. Klinger mußte plötzlich eingefallen sein, daß seine Vorstellung in einer halben Stunde begann, obwohl die Sonne noch

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