Märchen
Kätnerskinder in ihrem ganzen armen Leben noch nicht gesehen. Wer in einem solchen Haus wohnen mochte, hatten sie Nils gefragt. Und wie mochte ein solches Schloß wohl heißen, das wußte der große Bruder doch gewiß? Aber Nils wußte es nicht, und jetzt war er krank, so krank, daß die Geschwister ihn nichts mehr fragen konnten.
Abends am siebzehnten Juni war Nils ganz allein in der Kate.
Der Vater war noch nicht von seinem Tagewerk heimgekehrt, die Mutter war auf der Weide und melkte die Kühe, und die Geschwister liefen im Wald herum, um zu sehen, ob die wilden Erdbeeren nicht bald reif waren. Ganz allein lag Nils dort in der guten Stube, und er atmete schwer und dämmerte im Fieber dahin.
Er wußte nicht, daß es der siebzehnte Juni war, und nicht, daß die Erde so sprießend grünte, wie sie einst neu erschaffen aus Gottes Hand gekommen war. Aber in der großen Eiche vor dem Giebel saß der Kuckuck und rief. Das hörte Nils, und das weckte ihn. Er schlug die Augen auf, denn er wollte sich so gern das Schloß auf dem Rollo ansehen. Und da lag es auf seiner grünen Insel mitten im tiefblauen See und reckte seine Zinnen und Türme in den tiefblauen Himmel. Dieses tiefe Blau machte die Stube so kühl und dunkel und wohlig zum Schlafen. Ja, jetzt wollte er schlafen...
Das Rollo wehte sachte, das Schloß darauf bebte.
O düsteres Schloß so voller Geheimnisse! Wessen Wimpel flattern im Abendwind auf deinen Türmen, wer wohnt in deinen Sälen,
wer tanzt dort zu Fiedel und Flöte? Und wer sitzt gefangen im Westturm und soll sterben, bevor der Morgen graut?
Sieh, da winkt er durch die Gitterstäbe der Turmluke, mit schmaler, königlicher Hand erfleht er Hilfe, denn er ist noch so jung und möchte die grünende Erde nicht verlassen. Schau hin, Junker Nils von Eka, so schau doch hin! Du Schildknappe des Königs, hast du deinen Herrn vergessen?
Nein, Junker Nils hat nichts vergessen. Er weiß, daß die Zeit drängt und daß er seinen König retten muß, denn bald, o bald wird es zu spät sein. Heute ist der siebzehnte Juni, und ehe die Sonne aufgeht, soll sein Herr das Leben verlieren. Der Kuckuck weiß es bereits, er sitzt auf einer Eiche im Burghof und ruft wie toll. Er weiß, daß dort jemand sterben muß.
Aber am Ufer des tiefblauen Sees liegt im Schilf ein Boot verborgen. Sei guten Muts, du junger König, dein Knappe ist auf dem Weg zu dir. Jetzt senkt sich die Dämmerung der Juninacht über die grünen Ufer und den stillen See. Langsam gleitet das Boot über das blanke Wasser, leise tauchen die Ruder ein, damit kein Ruderschlag zu hören ist und kein Wächter mißtrauisch wird.
Die Nacht ist voll Gefahren, und das Schicksal des Reiches ruht in der Hand des Ruderers. Noch langsamer jetzt, noch leiser, noch näher heran... O düsteres Schloß, so finster brütend liegst du auf deiner grünen Insel, und so schwarz wirfst du deinen Schatten auf das Wasser, doch wisse, jetzt naht einer, der ohne Furcht ist.
Junker Nils von Eka ist es, vergeßt diesen Namen nie, das Schicksal des Reiches ruht in seiner Hand. Vielleicht spähen Augen durch die Nacht, vielleicht sehen sie sein Haar schimmern wie einen Goldhelm? Wenn dir dein Leben lieb ist, Junker Nils, dann rudere dein Boot in den Schatten des Turms, verbirg dich im Dunkeln, leg an unter dem Kerker des Königs, lausche und warte...
Horch! Die Wellen schlagen plätschernd an die rauhen Steine des Turms, sonst ist alles still.
Aber da flattert vom Turm wie eine weiße Taube ein Brief hinab in das Boot, er ist geschrieben mit Blut.
»An Junker Nils von Eka«, so steht dort.
»Wir, Magnus von Gottes Gnaden, rechtmäßiger König des Reiches, haben in diesem Leben keinen Frieden und keine Freude mehr, und das ist die Schuld Unseres Vetters, des Herzogs. Wie Dir kund sein dürfte, bereitet er Uns heute nacht ein elendes Ende. Eile Uns deshalb unverzüglich zu Hilfe, erforsche selbst, auf welche Weise, und zaudere nicht, denn Wir sind in großen Ängsten um Unser Leben. Geschrieben auf Schloß Wildgiebel am siebzehnten Juni des Nachts.
Magnus Rex«
Junker Nils ergreift seinen Dolch, er ritzt sich eine Wunde in den Arm und schreibt mit rotem Blut an seinen Herrn. Dann spannt er den Bogen, und einem Feuerstrahl gleich fliegt sein Pfeil mit der tröstlichen Botschaft durch den hellen Nachthimmel hinauf zu dem Gefangenen im Turm.
»Seid guten Muts, König Magnus! Euch allein gehört mein Leben, und mit Freuden gebe ich es hin, um meinen König zu erretten.
Gott
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