Märchen
darfst du gern«, sagte Lena freundlich. »Aber warum bist du so traurig? «
Die Elfe fing wieder an zu schluchzen.
»Ich habe kein Kleid«, sagte sie. »Ausgerechnet heute abend, wo ich wirklich eins brauche, habe ich keins!«
»Warum brauchst du denn gerade heute eins?« fragte Lena.
»Warum?« sagte die Elfe. »Weil wir heute einen großen Ball hier in unserem Garten haben.«
Lena hatte immer geglaubt, daß der Garten ihrem Papa und ihrer
Mama gehörte und ein bißchen auch vielleicht ihr, und nun kam diese Elfe und sagte: »Unser Garten...«
»Du kannst gern alles wissen«, sagte die Elfe. »Wir Elfen, denen dieser Garten gehört, geben heute nacht einen Ball für den Elfenkönig. Er kommt mit seinem ganzen Gefolge aus seinem Garten am Maiglöckchenweg hierher. Jede Nacht besucht er einen anderen Garten. Und kannst du raten, warum? Er will sich eine Königin suchen. Und ausgerechnet heute habe ich kein Kleid! Ich kann doch nicht splitterfasernackt tanzen gehen -
das verstehst du doch.«
Sie begann wieder zu weinen.
»Wo hast du denn dein Kleid gelassen?« fragte Lena.
»Es ist im Rosenbusch hängengeblieben und von oben bis unten zerrissen. Man kann es nicht mehr flicken. Ich wollte, ich wäre tot!«
»Aber nein, warum möchtest du denn das?« fragte Lena, der die kleine Elfe sehr leid tat.
»Weil ich den König so gern habe«, sagte die Elfe leise, »so furchtbar gern.«
Sie erhob sich vom Fensterbrett, um zu gehen. Aber plötzlich stieß sie einen kleinen Schrei aus, und eine Sekunde später stand sie auf dem Tisch mit Lenas Geburtstagsgeschenken.
»Welch ein herrlicher Stoff!« rief sie. Es war das Taschentuch, das sie in ihren zierlichen, feinen Händen hielt. Die Worte sprudelten ihr nur so aus dem Mund:
»Liebste, Beste!« bat sie. »Bitte, kann ich diesen Stoff nicht haben? Ich würde dich nicht bitten, wenn es mir nicht so viel bedeuten würde. Oh, ich weiß nicht, was ich tue, wenn du nein sagst!«
Lena zögerte eine Weile. Aber dann sagte sie:
»Es ist ja eigentlich ein Geburtstagsgeschenk. Aber da hilft nun nichts. Nimm es!«
Die kleine Elfe drückte den dünnen Stoff an ihr Gesicht und lachte und weinte abwechselnd.
»Das ist nicht wahr«, rief sie. »Das kann nicht wahr sein! Ich bekomme ein wundervolles, wundervolles Kleid, und ich kann tanzen wie alle anderen!«
»Aber es muß doch erst genäht werden!« sagte Lena, die wußte, wie schwierig es mit den Schneiderinnen und all dem war.
»Sieh nur!« rief die Elfe. Sie schwang und wirbelte das Taschentuch herum, und bevor Lena wußte, wie es geschah, stand die Elfe vor ihr in einem schimmernden Kleid mit einem weiten, wogenden Rock und Hohlsaum und Spitzen. Lena konnte sich nicht vorstellen, daß es irgendwo auf der Welt ein schöneres Kleid gab. Die Elfe tanzte auf dem Tisch herum und lachte vor Freude.
»Muj, Muj!« rief ein zartes Stimmchen aus dem Garten.
»Sie rufen nach mir«, sagte die Elfe. »Ich muß jetzt gehen. Aber ich werde nie vergessen, was du für mich getan hast.«
»Oh, das ist doch gern geschehen«, sagte Lena, genau wie ihre Mama zu sagen pflegte. »Auf Wiedersehen, Muj! Ich hoffe, du hast noch viel Freude.«
»Die muß ich ja haben - in so einem Kleid!« sagte Muj.
Sie wollte gerade aus dem Fenster schweben, da blieb sie stehen und guckte Lena an.
»Hättest du nicht Lust, dir den Ball anzusehen?« fragte sie. »Du könntest doch in den Apfelbaum klettern.«
Lena sprang rasch aus dem Bett.
»Glaubst du wirklich, daß ich das kann?«
Muj nickte. »Beeil dich«, flüsterte sie. »Beeil dich.«
Und das tat Lena. Sie zog ihre roten Pantoffeln an und wickelte sich in die blaue Decke. Und dann kletterte sie zum Fenster hinaus.
Genau davor stand ein Apfelbaum. In dem Baum gab es einen Ast, der war ein ausgezeichneter Sitzplatz. Lena versteckte sich oft dort, wenn Mama wollte, daß sie das Geschirr abtrocknete.
Sie setzte sich bequem zurecht und spähte zwischen den Apfelblüten hindurch. So spät war sie noch nie draußen gewesen.
Der ganze Garten lag in der Dämmerung. Es duftete so seltsam, und die Apfelblüten leuchteten weiß gegen den dunkelblauen
Frühlingshimmel. Über dem Garten lag eine eigentümliche Erwartung.
Plötzlich waren weit entfernt Trompetenstöße zu hören. Es ging ein schwaches Raunen durch den Garten, und jetzt bemerkte Lena, daß am Gartentor viele Elfen standen, die gespannt den Weg entlang schauten.
Die Trompetenstöße kamen näher. Das Gartentor öffnete sich.
Die
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