Märchen
steh mir bei!«
Ja, Gott steh dir bei, Junker Nils! Wärst du schnell und hart wie ein Pfeil und könntest gleich ihm durch die Nacht fliegen, dann wäre es ein leichtes, dem König zu Hilfe zu kommen. Wie aber soll ein Schildknappe in den Kerker dringen in dieser Nacht, die des Königs letzte ist? Droht nicht jeder lebenden Seele, die sich vor dem Morgengrauen der herzoglichen Burg nähert, ein grausamer Tod? Das Tor ist verriegelt, die Zugbrücke hochgezogen, und zweihundert bewaffnete Männer bewachen Schloß Wildgiebel heute nacht.
Der Herzog aber tanzt im Rittersaal, er kann nicht schlafen. Die Juninacht ist allzu hell und schenkt dem, der Böses plant, keinen Schlaf. Oh, daß der Morgen doch bald graute, denn dann verliert der Gefangene im Turm sein Haupt und das Reich seinen König.
Der Herzog weiß am besten, wer dann der Anwärter auf die Krone ist, oh, wie er den Morgen herbeisehnt! Doch bis dahin will er tanzen. Herbei, herbei, Fiedel, Flöte und Schalmei, herbei, herbei, ihr Jungfrauen mit den leichten, flinken Füßen, jetzt möchte der Herzog tanzen und scherzen. Doch wer Böses plant, findet im Leben keine Rast und keine Ruh, und wie ein nagender Wurm kriecht dem Herzog die Furcht unter die Haut. Gewiß sitzt der König gefangen im Turm, aber er hat seine Getreuen, und wer weiß, vielleicht reiten sie schon jetzt mit tausend Mannen auf Schloß Wildgiebel zu? Getrieben von Unruhe, verläßt der Herzog die Tanzenden und tritt ans Fenster und späht und lauscht hinaus in die Nacht. Hört er nicht schon das Donnern von Hufen, oder ist es das Klirren feindlicher Lanzen und Schwerter?
Nein, es ist nur ein armer Spielmann, der dort am Ufer unter den Eichen wandert und die Laute zupft. Über den schmalen Wildgiebelsund steigt sein Lied empor, so klar wie das eines Vogels.
Mein Weg, der führet mich weit durchs Land,
ich sah des Königs Reiter am Waldesrand,
der Kuckuck ruft die ganze Nacht,
oh, wie sein Ruf so traurig macht!
Mein Weg, er führet mich weit durchs Land!
Da erbleicht der Herzog.
»Komm her, kleiner Spielmann, komm und erzähle mir, wer bei Nacht durch den Wald reitet!«
»Ach, gnädiger Herr, die Worte eines armen Spielmanns rollen haltlos wie Erbsen dahin, laßt mich mit meiner Laute in Frieden wandern. Die Nacht ist ja so schön und das Wasser so still, die Erde blüht, und der Kuckuck ruft. Und glaubt mir, bald sind die wilden Erdbeeren reif, das sah ich heute nacht im Wald.«
Da wird der Herzog zornig.
»Weißt du nicht, kleiner Spielmann, daß es auf Schloß Wildgiebel tief im Keller Gefängnisverliese gibt? Dort reift ein Spielmann schneller als die Erdbeeren im Wald, und ist er erst reif, erzählt er alles, was man von ihm wissen will.«
»Ach, gnädiger Herr, gewiß will ich alles erzählen, aber dein Tor ist verriegelt und die Brücke hochgezogen, keine lebende Seele kommt in Schloß Wildgiebel hinein.«
Da nickt der Herzog grimmig.
»So ist es, kleiner Spielmann, doch für dich soll die Zugbrücke herabgelassen und das Tor geöffnet werden. Nur herein, mein Freund, denn jetzt will ich es wissen, wer heute nacht durch den Wald reitet.«
Horch, die Ketten rasseln, die Zugbrücke senkt sich mit Knarren und Knirschen, das schwere Eichentor tut sich auf. Der Spielmann zupft seine Laute, ein paar zarte, traurige Töne nur. Ein armer Tropf ist er, sein Wams ist zerlumpt, aber sein Haar schimmert im Dunkeln wie ein Goldhelm. Und seht, jetzt geht er ins Schloß, er allein von allen lebenden Seelen... Ja, Gott steh dir bei, Junker Nils! Halt dein Wams am Halse zusammen, damit unter deinen Lumpen nicht der goldbestickte Kragen hervorschaut, schlag die Augen nieder, krümm den Rücken, stell dich blöde und vergiß keinen Augenblick, daß du nur ein armseliger Narr bist, der nicht weiß, was er redet.
»Viele tausend Mann waren es, gnädiger Herr, das weiß ich gewiß. Aber mehr als hundert kaum, das ist sicher. Und alle hatten sie Rosse, doch viele ritten auch auf Ochsen und einer sogar auf einem Schwein. Und alle trugen Schwerter und Speere, aber viele auch nur Besenstiele, und Sturmleitern schleppten sie, um Schloß Wildgiebel zu erklimmen, und Backtröge, um darin über den Sund zu rudern. Und wahrlich, gnädiger Herr, bald sind die wilden Erdbeeren reif, das sah ich heute nacht im Wald.«
Über so ein Geschwätz gerät der Herzog außer sich vor Zorn, aber er erschrickt auch, denn wer Böses plant, findet im Leben keine Rast und keine Ruh.
Und bald herrscht wieder Aufruhr
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