Märchen
in Schloß Wildgiebel. Auf die Wache alle Mann! Legt den Pfeil an die Sehne! Haltet die Steinschleudern bereit! Bemannt jede Schießscharte, verstärkt die Wache an der Zugbrücke um das Zehnfache! Jeden Augenblick kann der Ansturm kommen, wenn an den Worten des Spielmanns auch nur ein Körnchen Wahrheit ist.
Aber was ist mit der Wache am Westturm, Herzog? Soll die nicht auch verstärkt werden? Nur ein einziger Mann bewacht des Königs Kerker. Mons Yxa heißt er, der treuste Knecht seines Herrn.
Nein, die Wache am Westturm läßt der Herzog nicht verstärken, denn in seiner nachtschwarzen Seele schmiedet er den Plan, den König eigenhändig ums Leben zu bringen, falls das Schloß erstürmt wird. Lieber wäre es ihm freilich, der Gefangene bliebe bis zum Morgengrauen am Leben, denn so wurde es im Rat beschlossen, der den armen Häftling auf Geheiß des Herzogs zum Tode verurteilt hat. Eins aber ist sicher und gewiß, niemand wird den König heute nacht lebend aus dem Westturm befreien.
Doch wer eine Missetat begeht, will nicht, daß man es sieht.
Also soll Mons Yxa allein den Gefangenen bewachen, denn Mons Yxa schweigt wie ein Grab. Ihr Männer, gebt nur acht, daß kein Feind in Schloß Wildgiebel eindringt!
Kein Feind, mächtiger Herzog? Hast du nicht schon einen in deinen Mauern, auch wenn du es nicht weißt? Der kleine Spielmann, der soeben deine Burg betrat, wo ist er? Mit deinen Bogenschützen, deinen Steinschleudern und deiner uneinnehmbaren Burg, damit prahlst du, aber den fremden Spielmann mit Haaren wie ein Goldhelm, ihn hast du vergessen! Der Arme hockt jetzt in einer Ecke und nagt genügsam an einem Hühnerknochen, er ist ein wenig blöde und begreift nicht, was all dieser Aufruhr mitten in der Nacht zu bedeuten hat. Läuse hat er wohl auch, denn was sonst sucht er unter seinen Lumpen? Schau an, was hält er da zwischen den Fingern? Ist das eine Laus? Wahrhaftig, dieser Spielmann ist verrückt, jetzt wirft er doch die Laus in seinen Bierkrug, da merkt man, daß er nicht ganz bei Trost ist. Doch wer fragt schon nach einem armseligen Trottel, nicht einmal die Hunde vor dem Kamin kümmern sich darum, was er tut oder wohin er geht. Und jetzt hat er sich in seinen törichten Kopf gesetzt, Mons Yxa einen Krug Bier zu bringen. Leise tapst er zur Tür hinaus, und zaghaft trottet er über die Gänge und Treppen des Schlosses, aber den Krug hält er fest in den Händen, und trifft er jemanden, dann lächelt er so arglos...
Befehl des Herzogs, Bier für Mons Yxa!
Mons ist groß und stark wie ein Ochse. Zehn Maß Bier kann er trinken. Und da steht er nun die ganze Nacht vor dem Kerker des Königs und ist durstiger als jedes andere Mannsbild. Doch sieh an, da kommt ja Bier, von behutsamen Händen getragen.
»So ein kleines blondes Kerlchen, wer bist du denn? Dich hab ich auf Schloß Wildgiebel noch nie gesehen.«
Aber der Blondschopf lächelt so arglos und töricht, er ist wohl ein wenig verrückt im Kopf.
»Der Herzog schickt dir Bier, und ich hab keinen einzigen Tropfen vergossen. Fast wäre ich gestolpert, aber da hielt ich mich am Krug fest, klug, wie ich bin.«
Mons Yxa führt den Krug gierig zum Munde, aah, was für ein Bier, das labt die Kehle. Er rülpst zufrieden und streicht dem Spielmann über den blonden Schöpf.
»Was für Haare, du bist ja genau so 'n Flachskopf wie der König. Man könnte glauben, ihr seid Brüder, aber dank du deinem Schöpfer, daß du ihn nicht zum Bruder hast, denn sonst wärst auch du bald einen Kopf kürzer.«
Mehr sagt Mons Yxa in dieser Nacht nicht. Er fällt um wie ein Mehlsack und schläft auf dem Boden ein. Jaja, das war eine nützliche Laus, die der Spielmann in seinen Bierkrug fallen ließ!
Doch jetzt, Junker Nils, jetzt gilt es das Leben! Schnell, schnell, wo ist der Schlüssel? Such ihn in Mons Yxas Taschen und Gürtel... Weit entfernt sind Schritte zu hören, kommt da nicht jemand? Schnell, schnell, ehe es zu spät ist, nimm den Schlüssel und schließ die knarrende Tür auf. Schnell, schnell, lauf die Treppe zum Kerker des Königs hinauf. Schnell, schnell ... doch jetzt sachte! Jetzt leise! Tritt ein bei deinem König! Ach, so
lange hat er gewartet, so sehr hat er gebangt, sieh nur, wie bleich und elend er da an der Turmluke sitzt. Seine Augen sind groß und traurig, und seine Haare schimmern wie ein Goldhelm.
Und jetzt entdeckt er seinen Schildknappen, und er weint still.
»Junker Nils, mein Herzlieber, so habe ich also doch noch einen Freund hier auf
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