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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Absperrung am Strand bewundert hatten.
    »Ich glaube«, sagte Abel und sah in seine Kakaotasse, »es wird langsam Zeit, nach Hause zu fahren. Muss irgendjemand vorher noch aufs Klo?«
    Micha nickte, und als sie fort war, beugte sich Abel ein wenig näher zu Anna.
    »Frau Ketow«, sagte er. »Micha hat sie nicht erkannt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das eben Frau Ketow war.«
    »Jetzt haben wir sie alle versammelt«, meinte Anna. »Alle, die irgendetwas mit der Geschichte zu tun haben.«
    »Nein«, sagte Abel leise. Dann zog er etwas aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Es war ein Kontoauszug von der Sparkasse. »Du hattest recht«, sagte er und schob das Papier zu ihr hinüber. Anna glitt mit den Augen die Spalten entlang. Die Eingänge und Abbuchungen dieses Kontos waren kläglich, kaum mehr als das, was ein Kind an Taschengeld ausgibt. Nur ganz unten gab es einen etwas größeren Betrag. 100 Euro, abgehoben beim Sparkassenautomaten in Eldena.
    »Das war nicht ich«, sagte Abel. »Das war sie. Jetzt fängt sie tatsächlich damit an, unser Geld auszugeben.«
    »Michelle«, sagte Anna.
    Abel nickte. »Sie ist die einzige andere Person, die eine Karte zu diesem Konto hat. Ich frage mich, ob ich es sperren lasse. Die Zugangsdaten ändere. Aber vermutlich kann ich das nicht mal, verdammt, ich bin immer noch nicht achtzehn. Das kann nur sie. In jedem Fall … ist sie nicht sonst wohin gefahren, um neu anzufangen.« Er sah sich um, blickte über die Köpfe im Utkiek und hinaus, zu den Spaziergängern auf dem Eis, am Hafen, drüben am Strand. »Sie ist ganz in der Nähe. Ich habe sie nur noch nicht entdeckt.«
    Es ergab sich ganz wie von selbst, dass Anna mit Abel und Micha nach Hause ging. Oder womöglich hatte die kleine Königin es einfach bestimmt, womöglich hatte sie in den Dreck irgendeiner unsichtbaren Scheibe geschrieben: NIM SIE MIET NACH HAOSE, so wie KüsT eUCh. Frau Ketows Tür stand nicht offen, aber Anna spürte eine gewisse lauchende Präsenz dahinter. Abel kochte Spaghetti.
    Und an diesem Abend dachte Anna, dass Linda recht hatte. Dass wirklich alles gut werden würde. Dass es schon beinahe gut war. Abel stand in der winzigen Küche und summte, ein Küchenhandtuch in den Hosenbund gesteckt, wie ein Hinterhofkoch, Micha malte im Wohnzimmer ein Bild für die Schule, Was-ich-an-diesem-Wochenende-gemacht-habe, und Anna schnitt Tomaten. Auf dem Bild Was-ich-an-diesem-Wochenende-gemacht-habe erschienen nach und nach eine Querflöte, aus der ein Stück Kuchen herauszuquellen schien, eine rote Tulpe und ein gestreiftes Absperrband. Dann jemand, der Abel sein sollte, und jemand, der Anna war – beide unterschieden sich durch die Haarfarbe, und schließlich ein grünes Viereck mit der Beschriftung HOPPE und einem gelben Kreis: ein Schiff mit einem Steuerrad. Mitten im Bild flog ein graues Tier mit vier Beinen, das vielleicht einen Hund darstellte, mit der gleichen Wahrscheinlichkeit aber einen Elefanten. Abel und Anna küssten sich in der Küche und die Tomatensoße kochte über und tropfte zischend auf die Herdplatte. Sie wischten sie weg und lachten. Wie gut alles war!
    »Wie kann ich nur so glücklich sein«, fragte Anna leise, »wenn da draußen irgendwo ein Mörder frei herumläuft?«
    »Sei weiter glücklich«, sagte Abel und malte ihr mit Tomatensoße einen Kreis auf die Wange. »Vielleicht ist es ja ansteckend.«
    Sie aßen die Spaghetti an dem kleinen Wohnzimmertisch, und Abel sagte nichts, als Micha fand, mit den Händen ginge es besser.
    »Jetzt gibt es noch eine Sache zu erledigen, ehe du ins Bett gehst«, sagte Abel am Ende. »Weißt du, was wir heute noch machen wollten?«
    Micha wickelte eine blassblonde Haarsträhne um ihren Zeigefinger. »Haare schneiden«, sagte sie und stöhnte ein bisschen.
    »Ja«, sagte Abel. »Heute ist Haarschneidetag. Sonst laufen wir am Ende alle herum wie die Räuber, und keiner erkennt uns mehr, und stell dir vor, du kommst eines Tages in die Schule, und deine Lehrerin fragt: ›Wer ist denn dieses wilde Kind?‹«
    »Das fragt sie gar nicht«, meinte Micha und kicherte. »Frau Milowicz fragt immer bloß, wann sie mal mit meiner Mama reden kann.«
    »Bald«, sagte Abel. »Bald, Micha.«
    Dann holte er die Haarschneideschere und einen Kamm aus dem Bad, und Anna sah zu, wie er Michas blonde Haare kämmte.
    »Schneehaar«, sagte er, »Eishaar. Wenn sie im Sommer in der Sonne herumläuft, ist es fast weiß.«
    Anna sah seine Hände durch Michas Haare

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