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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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gleiten, sah ihn mit der Schere hantieren und stellte sich diese Hände in ihrem eigenen Haar vor, stellte sich vor, wie diese Hände mit anderen Dingen beschäftigt waren. Heute, dachte sie, heute, wo alles gut ist, vielleicht … vielleicht gehe ich heute Nacht nicht nach Hause. Wird er fortgehen, wenn Micha im Bett ist? Muss er noch jemanden treffen, in der Stadt? Oder hat er heute Zeit? Und will er, was ich will?
    »Stillhalten«, sagte Abel mit gespielter Strenge. »Du weißt, wie scharf diese Schere ist. So scharf, dass man jemandem damit den Hals durchschneiden kann.«
    Die Blätter der Schere glänzten im Licht der niedrig hängenden Wohnzimmerlampe mit ihrem museal hässlichen Sechzigerjahre-Schirm. Micha wand sich unter Abels Händen, sie hatte keine Lust mehr, stillzuhalten.
    »Hör auf!«, rief sie. »Du kitzelst mich und ich hab jetzt genug abbe Haare! Jetzt bist du dran, gib mal die Schere her …«
    Sie drehte sich halb um, um nach Abels Hand zu greifen, und da geschah es. Abel rutschte mit der Schere ab. Er schrie auf und Micha schrie ebenfalls, sie sah das glänzende Metall der Schere durch die Luft segeln, sah es auf dem Teppichboden landen und sah Abels Finger an. An seinen Fingern klebte Blut.
    »Scheiße!«, rief er. »Micha, was sollte denn das?«
    »Du hast meinen Hals durchgeschnitten!«, schrie Micha. Abel fand ein Taschentuch und drückte es auf die Stelle, von der das Blut kam. Es war ein winziger Ritz in ihrem Nacken, ein Kratzer der Scherenspitze, nichts Schlimmes, und er nahm Micha ganz fest in die Arme und drückte das Tuch weiter auf die Wunde. Anna atmete auf. Sie hatte hinter dem Sofa gestanden, aber plötzlich musste sie sich in einen der Sessel setzen, ihre Knie waren ganz weich. Es war nichts geschehen, und dennoch erschien ihr das Ganze wie ein Symbol, der Glanz von dunklem Blut im Nacken eines Menschen – Blut wie das Blut aus einer Einschusswunde –, und sie dachte an Rainer Lierski und an Sören Marinke in seinem eiskalten Grab unter dem Sand.
    »Heile, heile Segen«, sang Abel leise, »drei Tage Regen, drei Tage Sonnenschein, und alles wird vergessen sein … heile, heile Segen …« Er wiegte Micha in seinen Armen wie ein viel kleineres Kind, wie das kleine Kind, das sie einmal gewesen war, und sie zog die Nase hoch und befreite sich schließlich aus seinen Armen.
    »Kommt noch Blut?«
    »Nein«, sagte Abel. »Das Singen hilft, das weißt du doch.«
    Micha nickte. »Früher, wenn ich hingefallen bin, haben wir auch immer gesungen«, erklärte sie und wischte sich ein paar Tränen des Schrecks aus dem Gesicht. »Und es hat immer aufgehört zu bluten. Krieg ich ein Bärenpflaster?«
    Abel hob sie hoch, auch dies eine Geste aus früheren Zeiten, in denen sie kleiner gewesen war, und trug sie ins Bad, um sie zu verarzten, und plötzlich dachte Anna: Sie wird groß. Eines Tages wird sie zu groß sein, um herumgetragen zu werden. Eines Tages wird sie ihm entgleiten, so wie die Schere ihm entglitten ist. Eines Tages wird er sich nicht mehr an ihr festhalten können und er wird ganz alleine zurückbleiben. Vielleicht ist die Verantwortung für Micha weniger eine Bürde als ein Anker. Ein Rettungsboot. Eine Holzplanke, an die man sich klammert, um nicht unterzugehen. Sie schüttelte den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. Sie hörte Abel und Micha im Bad lachen, sie hörte Wasser laufen, der Unfall mit der Schere war vergessen und alles wieder in Ordnung. Als Micha noch einmal ins Wohnzimmer kam, um Gute Nacht zu sagen, steckte sie in einem türkisfarbenen Schlafanzug mit schielenden Mickymäusen und trug stolz ein grünes Pflaster mit einem Bären im Nacken wie eine Trophäe. Und dann schloss sich die Kinderzimmertür endgültig hinter ihr und Abel ließ sich aufs Sofa fallen.
    Anna stellte Magnus’ Weinflasche auf den Tisch. »Auf den Schreck«, sagte sie.
    Er las das Etikett und pfiff durch die Zähne.
    »Mein Vater wollte ihn loswerden«, erklärte Anna.
    Abel schüttelte den Kopf, ging in die Küche und kam mit einem Korkenzieher und zwei Wassergläsern wieder. »Sieht aus, als hätten wir keine Weingläser.«
    »Von mir aus können wir den Wein auch mit dem Strohhalm aus der Flasche trinken«, meinte Anna. »Aber ich brauche jetzt einen Schluck davon.«
    Sie schlug die Beine auf dem Sessel unter und hielt sich an ihrem Glas fest. Der Wein war noch nicht zu Essig geworden. Ein Glück.
    »In letzter Zeit sind wir vom Unglück verfolgt, was?«, murmelte Abel. »Seit

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