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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Café. Vielleicht sah er sie. Wen sah er noch? Und was für eine Oper war es, die hier gegeben wurde?
    Anna folgte seinem Blick zur Caféterrasse, wo die Leute jetzt aufgaben und gingen, weil es einfach zu kalt wurde. Jemand mit einem großen grauen Hund ging gerade an der Terrasse vorbei. Anna legte Abel eine Hand auf den Arm und deutete hinaus.
    Der Spaziergänger mit dem Hund blieb beim Beginn der Mole stehen, sah aufs Wasser hinaus, machte kehrt und führte seinen Hund zurück, am Fluss entlang. Er schob mit der einen Hand ein Fahrrad.
    »Bertil«, sagte Anna.
    Abel nickte. Hatte er sie gesehen? Er hatte den Knaake gesehen, der immer noch draußen auf der Mole stand, so viel war sicher – er hatte den Knaake gesehen und war umgekehrt.
    »Ist das Meer so zäh geblieben?«, fragte Micha und strich mit einem behutsamen Zeigefinger die Blätter der frischen Tulpe entlang. »Oder ist es wieder flüssiger geworden? Haben sie herausgefunden, wer der Mörder war?«
    Abel trank einen Schluck Kakao, legte die Hände vors Gesicht und atmete tief durch.
    »Das Meer«, sagte er, nachdem er die Hände wieder heruntergenommen hatte. »Das Meer blieb grün und zäh. Schlimmer noch, es wurde zäher und zäher. Und schließlich stand es still. Die Wellen rührten sich nicht mehr. Das Schiff blieb stehen.
    Dann brach eine Woge vor dem Bug des grünen Schiffes auf, es gab ein Klirren wie von Glas und in einem Regen aus Splittern robbte der Seelöwe auf die starre, grün glänzende Oberfläche des Ozeans.
    ›Das Meer‹, verkündete er, und sein Ton hatte etwas sehr Endgültiges, ›das Meer ist gefroren.‹
    ›Wie … wie kommen wir jetzt weiter?‹, fragte die kleine Königin verzweifelt.
    ›Zu Fuß‹, antwortete das Rosenmädchen. ›Wir müssen zu Fuß gehen.‹
    So kletterten sie alle über die Reling, einer nach dem anderen: der Fragende, der Antwortende, der Leuchtturmwärter, das Rosenmädchen, die kleine Königin mit Frau Margarete im Arm und zum Schluss die blinde weiße Katze. Sie gingen ein Stück in die Richtung, in der sie das Festland glaubten, nur ein kleines Stück, dann blieben sie unschlüssig stehen – ein elendes Häufchen in der dunkelgrün glänzenden Unendlichkeit.
    ›Was tun wir, wenn wir uns in diesem unendlichen, eisigen Winter verlaufen?‹, fragte die kleine Königin zaghaft. ›Wenn wir uns verlieren? Wo finden wir uns wieder?‹
    ›Dort, wo der Frühling ist‹, antwortete das Rosenmädchen.
    Und dann wanderten sie los. Noch einmal drehten sie sich um und sahen zu ihrem grünen Schiff mit dem gelben Steuerrad zurück, und diesmal holte der Leuchtturmwärter sein Opernglas hervor, dessen Existenz er bis dahin vergessen hatte, und blickte hindurch.
    ›Jetzt sehe ich es!‹, rief er. ›Ich sehe den Namen des Schiffes! Er ist ganz unten an den Bug gepinselt, wir haben es bisher nur nicht gemerkt!‹
    Er reichte der kleinen Königin das Opernglas und da sah auch sie die blauen Lettern auf dem grünen Grund.
    ›Wie heißt es?‹, fragte der Fragende.
    ›Danke, ebenfalls‹, antwortete der Antwortende.
    ›Es heißt HOPE‹, sagte die kleine Königin. ›Wie Hoppe, hoppe, Reiter. ‹
    ›Nein‹, sagte das Rosenmädchen. ›Das ist ein englisches Wort. Unser Schiff hieß Hoffnung . Und jetzt lassen wir es zurück.‹«
    Abel trank einen Schluck Kakao und lehnte sich zurück.
    »War es das?«, fragte Micha.
    »Für heute ja. Bis zum nächsten Mal muss die Mannschaft erst ein Stück zu Fuß weitergehen, zu Fuß über das Eis.«
    »Da draußen gehen sie zu Fuß über das Eis, wie in der Geschichte!«, rief Micha. »Schau, das will ich auch machen! Da ist sogar eine Frau mit einem Kinderwagen! Die ist aber ein bisschen zu nah an dieser Fallrinne, was? Will die von da drüben hier rüber, vom Strand aus? Das geht doch nicht, die muss über die Brücke gehen!«
    In diesem Moment merkte die Frau, dass sie sich der Fahrrinne näherte, wo das dunkle Wasser unter dem Eis hervorschimmerte. Sie blieb einen Moment unentschlossen stehen und machte schließlich kehrt, um ihren Kinderwagen zurück in Richtung Strand zu schieben. Zwei Kinder von vielleicht zwei und drei Jahren rannten um sie herum wie junge Hunde und versuchten, sich gegenseitig umzuschubsen. Die Frau selbst war eingemummt und trug ein Kopftuch über dem Haar, ein wenig sah sie aus, als wäre sie samt ihrem Kinderwagen aus einem Flüchtlingsfilm über das Kriegsende entsprungen. Aber vermutlich gehörte auch sie zu den Schaulustigen, die die

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