Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
grauen Seidenschal und einen Helm aus rotblondem Haar … Dann drehte er sich um und natürlich, natürlich war es Hennes. Und natürlich war das Mädchen Gitta.
    »Heute ist aber auch jeder hier«, sagte Abel leise.
    Es war eine seltsame Situation, wie sie sich ansahen, zwei und zwei, diesseits und jenseits.
    »So, mein Kind«, sagte Gitta schließlich, »da habt ihr unseren Tisch. Wart ihr schon drüben? Am Strand, bei der Absperrung? Ihr habt doch Radio gehört?«
    Anna nickte langsam. »Wir waren noch nicht dort, nein. Ihr?«
    »Oh ja«, sagte Gitta. »Es ist schon eine gruselige Sache, wenn man sich vorstellt, wie der Typ da die Leiche gefunden hat, heute Morgen erst, und dass sie da einen ganzen Tag herumlag, oder zwei … Bei uns fährt jetzt alle naselang die Polizei vorbei, ich habe schonüberlegt, ob ich eine Würstchenbude im Neubauviertel aufmache, für die Schaulustigen, aber ich fürchte, meine Mutter wird dagegen sein, wenn es sich nicht um hundert Prozent steril abwaschbare Würstchen handelt … Hennes wollte unbedingt an den Strand, er dachte, er findet noch irgendwelche Spuren, die nicht völlig zertrampelt sind … der große Spurensucher …«
    Sie drückte sich in ihrem schwarzen Mantel an Hennes, und er versuchte, sie mit sich fortzuziehen. »Komm jetzt, wir wollten doch …«
    »Im Wald findet er auch Spuren«, fuhr Gitta fort und zwinkerte Anna zu. »Mitten im tiefen Wald … huuhuuuh … ich werde es früher oder später lernen müssen, das Spurensuchen, und vielleicht lerne ich sogar irgendwann das Schießen. Die Hochsitze, auf denen man dazu herumsitzen muss, können jedenfalls sehr gemütlich sein …«
    »Moment«, sagte Anna, »das hört sich nach Bertil an, nicht nach Hennes. Hennes, jagst du auch ?«
    Hennes verdrehte die Augen, aber er schaffte es tatsächlich, auf eine charmante Art die Augen zu verdrehen.
    »Komm jetzt, Gitta«, wiederholte er.
    »Söhne aus besserem Hause«, sagte Abel. »Die von Biederitz haben ihr Revier draußen bei Hanshagen, wusstest du das nicht?«
    »Nein«, sagte Anna und sah Hennes nach, der Gitta etwas zu entschlossen am Arm in Richtung Ausgang führte. Gitta in ihrer schwarzen Motorradkluft, Gitta, die sich trotzdem nur ein Moped leisten konnte, Gitta mit ihrer steril abwaschbaren Mutter passte im Grunde genauso wenig in Hennes’ Familie wie Abel in Annas Familie. Sie stellte sich vor, wie Gitta in ihrer Lederjacke still auf dem Ansitz saß, einen majestätischen Hirsch vor sich auf einer Lichtung …dann hob sie das Gewehr, die Lederjacke knirschte, und der Hirsch floh. Oder er lachte sich tot. Oder Gitta schlich sich stattdessen an und machte dem Hirsch ein unmoralisches Angebot …
    »Warum lachst du?«, fragte Abel.
    Anna schüttelte den Kopf. »Wirre Gedankengänge«, antwortete sie. »Es ist gut, zu lachen.«
    »Ich habe ganz alleine drei Kakao und Kuchen bestellt«, sagte Micha. »Ich sage es nur, weil ihr es nicht gemerkt habt. Und hier, seht mal! Hier ist schon Frühling.«
    Sie hatte recht. Auf den Tischen des Cafés standen einzelne rote Tulpen in schmalen, weißen Vasen.
    »Ja, hier ist schon Frühling«, sagte Abel. »Manchmal frage ich mich, ob es draußen eigentlich nie mehr Frühling wird.«
    Draußen, im ewigen Winter, ging der Knaake mit nachdenklichen Schritten ganz alleine auf die Mole hinaus. Beim Leuchtfeuer blieb er stehen, und es sah aus, als lauschte er einer vergangenen Melodie, die dort in der Luft hängen geblieben war. Dann zog er etwas aus der Tasche und hielt es an die Augen. Ein Opernglas.
    »Habt ihr nicht gesagt, das ist der Leuchtturmwärter?«, meinte Micha und verrenkte sich den Kopf. »Der guckt jetzt nach dem Schiff. Nach dem schwarzen. Und danach, wer die letzte Person ist, die da noch drauf ist. Außer Frau Ketow und Onkel Rico und Tante Evelyn. Ich glaube nämlich, die drei sind gar nicht gefährlich. Onkel Rico sowieso nicht, der will mich ja gar nicht haben. Der muss mich nur nehmen, weil er mein einziger nächster Verwandter ist. Wenn noch mal ein Sozialdings kommt, weil …«
    Sie redete weiter von dem Schiff und Sozialdingern, aber Anna hörte nicht zu. Sie sah, wie der Knaake sich mit seinem Opernglas umdrehte, und jetzt suchte er nicht mehr den Horizont ab, sondern den Strand von Eldena, gegenüber der Flussmündung. Konnte er durch das Opernglas das Absperrband dort erkennen? Und die Leute, die neugierig herumstrichen wie Katzen? Als Nächstes richtete der Knaake sein Opernglas auf das

Weitere Kostenlose Bücher