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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Königin. ›Wer schreibt denn solche Schilder? Haltet an! Ich möchte an Land gehen!‹
    ›An Land?‹, fragten der Leuchtturmwärter, das Rosenmädchen,die blinde weiße Katze und der Fragende im Chor. Nur der Antwortende murmelte etwas von ›sieben Mal täglich‹.
    ›Du kannst doch keine Insel betreten, auf der ein Mörder wohnt‹, sagte das Rosenmädchen.
    ›Oh doch‹, sagte die kleine Königin. ›Eine Königin mit einem Herzen aus Diamant kann jede Insel betreten. Vielleicht möchte der Mörder kein Mörder mehr sein, sondern lieber etwas anderes werden, ein Gegenteil, zum Beispiel ein Retter. In diesem Fall braucht er jemanden, der ihm sagt, dass er sich verwandeln kann.‹
    Damit kletterte sie über die Reling und sprang auf die Klippen der Insel hinunter.
    ›Warte!‹, rief das Rosenmädchen, und auch der Leuchtturmwärter, der Fragende und der Antwortende kamen mit. Nur die weiße Katze blieb an Bord sitzen, um ihre Pfoten zu lecken, und auch der Seelöwe war nirgendwo zu sehen, in welcher Gestalt auch immer.
    Die kleine Gesellschaft begann, über die winzige Insel zu wandern. Es war nicht nur die kleinste, sondern auch die kahlste Insel, die man sich vorstellen konnte. Kein Baum stand dort, kein Strauch – kein Haus. Aber der Mörder, der dort wohnte … wo war der Mörder? Drückte er sich irgendwo flach an den Boden, lag er auf der Lauer? Oder schlief er im Schatten zwischen den Zeilen? Sah man ihn nur, wenn man die Beschreibung seiner Insel rückwärts las?
    ›Er ist irgendwo‹, flüsterte die kleine Königin. ›Ganz nah. Er sieht uns, ich kann seinen Blick spüren. Aber er will nicht mit uns sprechen. Wie soll ich ihm helfen, etwas anderes zu werden als ein Mörder, wenn er sich nicht zeigt?‹
    ›Gehen wir‹, sagte der Leuchtturmwärter. ›Verlassen wir diese unheimliche Insel, ehe jemand von uns umgebracht wird.‹
    ›Nein‹, sagte das Rosenmädchen da. ›Nein, ich glaube, der Mörder ist gar nicht mehr hier. Er muss vor langer Zeit fortgegangen sein. Oder fortgeschwommen.‹
    ›Aber wo ist er dann?‹, flüsterte die kleine Königin unbehaglich. ›Vielleicht … vielleicht ist er längst an Bord?‹
    ›Wo – an Bord?‹, fragte der Fragende.
    ›Am dreizehnten März‹, antwortete der Antwortende, aber das passte natürlich mal wieder nicht. ›Auf dem schwarzen Schiff zum Beispiel‹, antwortete die kleine Königin stattdessen. ›Er ist jemand anders geworden. Wir erkennen ihn nicht.‹
    Da sahen sich alle an, der Leuchtturmwärter sah das Rosenmädchen an, das Rosenmädchen sah den Fragenden an, der Fragende sah den Antwortenden an. Der Antwortende sah zurück zum Schiff, wo die blinde weiße Katze schlief.
    Als das grüne Schiff wieder in See stach, kroch das Misstrauen übers Deck wie ein zusätzlicher Passagier. Vielleicht, dachte jeder von ihnen, war einer hier ein Mörder, einer, dem sie vertraut hatten. Einer, der nur mordete, weil er auf einer Insel geboren war, auf der ›INSEL DES MÖRDERS‹ stand.
    Die Wellen glichen jetzt dunkelgrünem Honig. Es musste am Misstrauen liegen. Sie kamen kaum noch voran. So würden sie das Festland nicht erreichen.«
    Abel verstummte, und Anna musste sich zwingen, aus dem zähen dunkelgrünen Honigmeer aufzutauchen, um zu sehen, wo sie waren. Sie standen vor dem Utkiek. Aber das war nicht der Grund, weswegen Abel aufgehört hatte, zu erzählen. Der Grund war die Gestalt, die am Hafen entlang auf sie zukam: eine Gestalt, die die Hände tief in den Taschen ihrer Jacke vergraben hatte und sich jetzt mit dem Bügel ihrer Brille im Backenbart kratzte.
    »Der Knaake«, sagte Abel leise. Anna nickte.
    »Gehen wir hinein«, sagte Abel.
    »Warum? Willst du ihm nicht begegnen?«
    »Ich will sehen, was er tut«, antwortete Abel. »Wo er hingeht und wie er sich benimmt. Nur … so. Kommt.«
    »Geht die Geschichte drinnen weiter und gibt es Kakao und kann ich ein Stück Kuchen?«, fragte Micha und flitzte voraus, die Stufen hinauf, ohne die Antwort abzuwarten. Sie war eine Königin. Selbstverständlich gab es Kakao und Kuchen.
    Anna dachte nicht, dass sie einen Tisch fänden, aber sie hatten Glück. Direkt an der gläsernen Wand, die auf die Flussmündung hinaussah, stand gerade ein Pärchen auf, und Micha schnappte sich den Tisch wie eine Katze eine Maus. Der Junge half dem Mädchen in einen schwarzen Ledermantel und schlüpfte selbst in einen Mantel, bei dessen Anblick Anna die Worte »geschmeidig« und »Kaschmir« dachte. Er trug einen

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