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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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er ging hinaus, weit hinaus, es war nicht wichtig, wann er nach Hause fuhr, sie merkten es oder sie merkten es nicht, und wenn sie es merkten, konnte er immer noch etwas von ausgedehnten Kneipentouren mit seinen Freunden erzählen und schuldbewusst und verkatert aussehen. Kneipentouren mit seinen Freunden? Er hatte keine Freunde.
    Nicht einmal sie wollte mit ihm befreundet sein. Nicht einmal Anna.
    Er zog die Handschuhe aus und griff mit bloßen Händen in den Schnee, der die Eisfläche bedeckte. Der Schnee war sehr kalt. Manchmal dachte er, es müsste sich gut anfühlen, sich einfach hineinzulegen und liegen zu bleiben, für immer.

13
    Schnee
    Am Montagmorgen war das Licht im Haus der Leemanns nicht mehr auf die gleiche Weise blau wie zuvor. Es hatte einen Sprung bekommen, etwas wie eine schmutzige Farbe hatte sich hineingemischt, vielleicht die Farbe von Blut.
    Anna duschte lange und ausführlich und wusch ihr Haar mehrmals aus. Sie hatte nachts nicht geduscht, es war solch ein Klischee, und wenn sie geduscht hätte, hätte Linda etwas geahnt. Als sie nach Hause gekommen war, hatte sie befürchtet, Linda im Wohnzimmer zu finden, schlaflos, wartend, das wäre ihr Ende gewesen, sie wäre einfach in ihren Armen zerflossen. Einen Moment lang hatte sie es sich beinahe gewünscht. Doch Linda war nicht da gewesen. Anna hatte gehört, wie sie sich neben Magnus im Bett hin und her gewälzt hatte, sie hatte dort gewartet, sie wurde erst ruhig, wenn sie wusste, dass ihre Tochter zu Hause war. Wovor fürchtete Linda sich? Fürchtete sie sich vor genau dem, was geschehen war?
    Anna hatte nicht geschlafen. Sie hatte still im Bett gelegen, an die Decke gestarrt, gewartet, dass der Morgen kam. Sie saß still beim Frühstück. Sie aß nichts.
    »Ist etwas passiert?«, fragte Magnus. Sie schüttelte den Kopf. Sie nickte. Sie zuckte die Schultern.
    »Habt ihr euch gestritten?«, fragte Linda.
    »Ja«, sagte sie, erleichtert über diese Möglichkeit der Erklärung, »ja, so ähnlich. Ich brauche ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken.«
    Auf dem Boden vor dem Briefkastenschlitz in der Tür lag ein weißer Umschlag mit ihrem Namen. Abels Schrift. Als sie den Umschlag aufhob, glühte er in ihrer Hand wie die Spitze einer Zigarette. Sie zerriss ihn in sehr kleine Fetzen und warf ihn draußen in die Mülltonne.
    Sie stieg auf ihr Rad und fuhr zur Schule wie jeden Tag; noch zwei Wochen Kurse, ehe das große, endgültige Lernen fürs Abi begann. Der Schmerz war noch da, beim Radfahren kam er zurück und riss und zerrte an ihr. Sie fuhr an der Abzweigung zur Schule vorbei. Sie konnte nicht hingehen. Sie hielt den Gedanken nicht aus, Abel zu sehen, ihm im U der Tische in Deutsch gegenüberzusitzen, sie wollte seine eisblauen Augen nicht sehen. Sie fragte sich, was nachts darin zu lesen gewesen war, nachts in der Bootshalle. Sie fuhr in die Stadt, stellte das Rad ab, ging ziellos durch die Straßen.
    Irgendwann fand sie sich auf der Fußgängerbrücke wieder, die hier über den Fluss führte, hier, wo im Sommer die großen alten Boote im Stadthafen lagen. Auch hier war der Fluss gefroren, nur die offenen Wasserlöcher der Eisangler in seiner Mitte glänzten wie feuchte Flecken undefinierbarer Körperflüssigkeit. Sie stützte sich auf das Brückengeländer und sah zum Restaurantschiff hinüber.
    »Wenn ich denken könnte«, sagte sie laut, »wenn ich klar denken könnte. Vielleicht muss ich sprechen, um zu denken. Was ist geschehen? Und was bedeutet das, was geschehen ist?«
    Sie sah sich um, es war niemand da, der sie hören konnte.
    »Ich habe Angst«, sagte sie zu sich. »Ich habe wieder Angst. Ichmuss die Fragen und die Antworten zusammenbringen. Die erste Frage lautet: Wer ist Abel Tannatek?«
    Ein Schwan ging unten über das Eis, schmutzig weiß, Schwäne sind nicht schön, dachte Anna, sie sind es nie gewesen, genauso wenig wie die eitrig-schlierigen Sonnenuntergänge über dem Meer.
    »Wenn es diesen Schalter gibt, der umkippt«, fuhr sie fort, »dann kippt er vielleicht nicht nur in solchen Momenten wie gestern … vielleicht ist er schon früher gekippt, an einem Strand, im Schnee … Der Mörder kehrt zurück zum Ort des Mordes. Und wenn er gestern Nacht zurückgekehrt ist? Wenn er da war, an meiner Seite? Der Wolf in der Geschichte hat seine Opfer alle mit einem Biss in den Nacken getötet, von hinten, ohne ihnen ins Gesicht zu sehen. Wenn er ihnen ins Gesicht gesehen hätte, hätte er vielleicht Mitleid empfunden, und das

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