Maerchenerzaehler
auf den Betonboden, sie kann Schemen von Booten ausmachen, sie versucht, die Schatten anzusehen, um sich von dem Schmerz in ihrem Inneren abzulenken, doch es gelingt nicht. Sie spürt das Tier tief, tief in sich, es bewegt sich, es stößt sie hinab auf den kalten Stein, wieder und wieder, und das Schlimmste ist die Hand vor ihrem Mund, die sie am Schreien hindert. Sie schließt die Augen, um den Betonboden nicht mehr zu sehen, es hilft nichts, der Schmerz wird größer, wenn man nicht mehr sieht, der Schmerz zerreibt sie wie zwei Mühlsteine, sie wird dies nicht aushalten, sie wird aufgeben, sie wird einfach aufgeben, denkt sie, und sterben. Sie will nur noch, dass es vorbei ist.
Und dann ist es vorbei. Es hat nur Sekunden gedauert. Die Hand befindet sich nicht mehr vor ihrem Mund, das Gewicht des anderen Körpers lastet nicht mehr auf ihr. Sie rührt sich nicht. Sie bleibt auf dem Boden sitzen, auf den Knien, vornübergebeugt, den Kopf auf den Armen. Ein Klirren, ein Splittern wie das Splittern von Geschirr bei einer Prügelei in einer Küche. Glas zerbricht. Als sie den Kopf hebt, ist es dunkel. Die Taschenlampe, es war die Taschenlampe, die zerbrochen ist. Sie hört Schritte, die sich entfernen, die davonlaufen, rennen, fliehen. Dann ist es still.
Sie wusste nicht, wie lange sie so auf dem Boden gekauert hatte. Lange. Einmal hörte sie die Ratte wieder huschen. Sonst hörte sie nichts. Da war niemand in der Bootshalle. Kein versteckter Mörder. Da war nur sie und die Erinnerung an das, was passiert war.
Sie spürte, dass sie blutete. Das Blut sickerte zusammen mit der Zeit aus ihr heraus, Stücke von Leben, aber natürlich war es nicht nur Blut, nicht nur Zeit, es war auch etwas anderes, an das sie jetzt nicht denken wollte, ein Teil eines Tieres – oder eines Menschen, den sie nicht kannte. Sie versuchte, »Abel« zu denken, doch der Name wollte sich in ihrem Kopf nicht formen, die Buchstaben weigerten sich, sich sinnvoll oder auch nur aussprechbar aneinanderzureihen.
Sie weinte nicht. Diesmal nicht. Und schließlich stand sie auf, fand ein Taschentuch und wischte das Blut zwischen ihren Beinen ab, es war nicht so viel, wie sie gedacht hatte. Sie zog sich wieder an. Sie merkte, dass sie zitterte, ihre Finger waren eiskalt, sie bekam die Knöpfe der Hose kaum zu. Als sie zum Eingang der Bootshalle hinüberging, kehrte der Schmerz zurück, und ihr wurde bewusst, dass sie hinkte.
Auf dem Weg zu ihrem Rad versuchte sie, den Schmerz auszublenden und so zu gehen, dass niemand ihr etwas ansah. Es war niemand da, aber morgen, morgen würden Leute da sein … Magnus … Linda … die Leute in der Schule. Bei dem Gedanken an die Schule drehte sich ihr der Magen um. Sie würde nie, nie im Leben mit jemandem über das hier sprechen. Auch nicht, vor allem nicht mit Magnus und Linda. Und weil sie mit niemand anderem darüber sprechen konnte, sprach sie mit sich selbst.
»Dummes kleines Mädchen!«, sagte sie zu sich, »dummes kleines Mädchen, du wolltest ein Abenteuer erleben. Da hast du dein Abenteuer.« Und dann, während sie ihr Rad aufschloss, begann sie ganz leise zu summen, eine lächerliche alte Melodie.
Heile, heile Segen, drei Tage Regen,
drei Tage Sonnenschein,
und alles wird vergessen sein …
Er hatte sie verloren!
Verdammt, er hatte sie verloren. Er wusste, dass sie hier gewesen war, am Strand, er hatte sie gesehen, sie und ihn, sie hatten ihn nicht gesehen, die Schatten hinter dem Surferhäuschen waren tief. Und nun wusste er nicht, wo er sie suchen sollte. Und er würde sich nach Hause schleichen, am Zimmer seiner Eltern vorbei, heimlich, wie ein Dieb, etwas, das er oft tat in letzter Zeit. Der Hund würde ihn nicht verraten, der Hund schlief fest, dafür hatte er gesorgt.
Er hatte sie verloren.
Irgendwo zwischen den Lagerhallen der Fischer, irgendwo beim Segelgelände. Er war zu vorsichtig gewesen, hatte ihnen zu viel Vorsprung gegeben, ängstlich darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden. Der Schnee machte die Nächte zu hell.
Er kehrte zurück zum Strand, sah in der Ferne das Viereck des Absperrbandes, das im Nachtwind knatterte, und merkte, wie er zitterte. Er wollte jetzt nicht daran denken, nicht an den Körper des Mannes denken, der dort gelegen hatte, nicht an das Blut denken, das aus der Wunde in den Schnee gelaufen war. Oder an die Frage, was Sören Marinke im letzten Augenblick gedacht hatte. An wen. Vielleicht hatte auch Sören Marinke geliebt.
Er fand sich auf dem Eis wieder,
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