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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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werden. Ein Seelöwe ist etwas, das aus dem Meer kommt und immer ins Meer zurückkehrt. Aber all diese Beschreibungen sind unnütz, denn es gibt viele Geschöpfe, die meilenweit schwimmen, ohne müde zu werden. Die Wahrheit darüber, was ein Seelöwe ist, kann ein Seelöwe niemals wissen. Die anderen, die können es erfahren, aber er selbst nicht. Du kannst es vielleicht lernen, wenn du bei mir bleibst.‹
    ›Aber ich kann nicht meilenweit schwimmen!‹, sagte die kleine Königin. ›Ich werde ertrinken.‹
    ›Du brauchst nicht zu schwimmen‹, sagte der Seelöwe. ›Du besitzt ein Schiff. Es liegt schon lange im Wasser und wartet, schon seit deiner Geburt, es lag verborgen in einer Nische der Insel, und ich habe es bewacht, so wie ich die Insel bewacht habe. Doch gegen das,was heute Nacht geschehen ist, konnte ich nichts tun. Ich konnte die Apfelbäume nicht retten, ich konnte die Stute nicht retten und auch nicht dein Schloss mit dem einen Zimmer. Nur das Schiff konnte ich retten, ich habe es mit der Nase von den Klippen weggestoßen, damit es nicht von den Steinbrocken zerschlagen wird. Ich werde dir zeigen, wie man den Wind in seinen weißen Segeln einfängt. Du musst mir vertrauen. Wir müssen das Festland erreichen, ehe der Winter vorüber ist. Auf dem Festland wirst du sicher sein.‹
    ›Sicher wovor?‹, fragte die kleine Königin.
    Doch der Seelöwe antwortete nicht. Er schwamm ein Stück hinaus, um die nächste Klippe herum, und schob das Schiff mit den Flossen heran. Es war grün wie die Sommerwiesen auf der versunkenen Insel. Seine drei Segel waren weiß wie die Bettwäsche des versunkenen Himmelbetts und das Steuerruder gelb wie die versunkenen Birnen an den Bäumen.
    ›Komm an Bord‹, sagte der Seelöwe.
    Da stand die kleine Königin auf und sprang hinüber auf die Decksplanken des Schiffs, die waren goldbraun wie die Dielen des versunkenen Schlosses. Der Seelöwe rief ihr aus dem Wasser zu, wie sie die Taue bedienen sollte, die weißen Segel blähten sich und das Schiff gewann an Fahrt.
    Die kleine Königin stand mit Frau Margarete im Arm am Heck und sah die letzten Klippen ihrer Insel verschwinden.
    ›Ich werde meine Insel niemals wiedersehen‹, flüsterte sie. ›Ich werde nie mehr in dem Himmelbett liegen und nie mehr auf der weißen Stute durch die Sommerblumen reiten …‹
    ›Es wird andere Sommerblumen geben, auf dem Festland‹, sagte der Seelöwe. ›Schönere und größere. Es wird andere weiße Stuten geben.‹
    ›Aber keine davon wird meine weiße Stute sein‹, sagte die kleine Königin.
    Sie wollte weinen, doch da sah sie, dass am Horizont ein zweites Schiff hing. Ein Schiff, das größer war als das ihre. Und sie fror plötzlich trotz ihrer Daunenjacke. Das andere Schiff war schwarz wie ein Scherenschnitt. Es besaß schwarze Segel und einen schwarzen Rumpf, schwarze Taue und eine schwarze Kajüte.
    ›Das sind die Jäger‹, sagte der Seelöwe. ›Sie jagen bei Tag und bei Nacht, bei Regen und Sturm. Dreh dich nicht zu oft nach ihnen um, kleine Königin.‹
    ›Was wollen sie?‹, flüsterte die kleine Königin. ›Hinter was sind sie her?‹
    ›Hinter dir‹, antwortete der Seelöwe. ›Es gibt etwas, das du wissen musst. Dein Herz, kleine Königin … ist kein gewöhnliches Herz. Es ist ein Diamant. Rein und weiß und groß und wertvoll wie kein zweiter. Könnte man dieses Herz aus deiner Brust lösen, würde es so hell funkeln und glitzern wie die Sonne.‹
    ›Aber man kann es nicht aus meiner Brust lösen, nicht wahr?‹, fragte die kleine Königin.
    ›Nein‹, antwortete der Seelöwe ernst. ›Nicht, solange du lebst.‹«

4
    Zwischenspiel
    Eine Weile war es still. Es war natürlich nicht still, Dutzende von Menschen redeten durcheinander, und weil es junge Menschen waren, redeten sie laut, und weil es viele junge Menschen waren, lauter als notwendig. Geschirr klapperte, die Tür zu den Damentoiletten schlug zu und wurde wieder aufgerissen, Seiten in Büchern, in Heftern, in kopierten Skripten, in Zeitschriften wurden umgeblättert. Jacken wurden raschelnd an- und ausgezogen, hier nieste jemand, drüben putzte sich jemand die Nase, dort küsste sich ein Pärchen, da hatte jemand seine MP3-Musik zu laut eingestellt.
    Aber es war doch still. Die Stille am Tisch hinter Anna überdeckte die Geräusche der Mensa-Cafete, die Geräusche einer ganzen quirligen, wuselnden Studentenstadt. In dieser Stille hatte eine Erzählung geendet, die hier und jetzt nicht weitergehen

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