Maerchenerzaehler
»Mehr hat man ja nicht.«
»Nein«, sagte Anna. »Mehr hat man nicht …«
Sie merkte, dass er die Mütze nicht wieder aufgesetzt hatte. Sie sah das zähe Februarlicht in seinen hellen, ungeschnittenen Haaren kleben. Er hatte nicht einmal die Hände in den Taschen. Er stand gerader als auf dem Schulhof. Und auf einmal war er unerklärlich nah, nicht physisch, gedanklich.
»Deutsch«, begann Anna. »Du hast es auch als Leistungskurs. Nicht dass es wichtig wäre …«
»Es ist wichtig«, sagte Abel. »Ja. Deshalb mache ich Abi in Deutsch. Das ist es, was ich tue. Geschichten erzählen. Nicht nur Micha. Später – ich will –« Er brach ab. »Die Sache mit Micha geht niemanden etwas an«, sagte er. »Und die Sache mit den Geschichten auch nicht.«
»Ja«, sagte Anna. »Nein. Was für eine Sache mit Micha?«
Abel betrachtete die glühende Spitze der Zigarette. »Dich geht es auch nichts an.«
»Schön«, sagte Anna und blieb stehen.
Und schließlich warf Abel die nicht fertig gerauchte Zigarette auf den Boden und trat sie aus. »Wenn ich dir sage, dass ich nicht ihr Bruder bin, sondern ihr Vater?« Er lachte plötzlich, ganz leise. »Nein, du kannst wieder aufhören zu rechnen. Nicht biologisch gesehen. Ich passe auf sie auf. Es gibt zu viele unschöne Sachen hier draußen. Jemand muss aufpassen. Du weißt, dass ich oft in den Kursen fehle. Jetzt weißt du, warum.«
»Aber … euer richtiger Vater …?«, fragte Anna.
Abel schüttelte den Kopf. »Den habe ich seit siebzehn Jahren nicht gesehen. Micha hat einen anderen Vater. Ich weiß nicht, wo er ist, aber es könnte sein, dass er früher oder später auftaucht, wenn er mitbekommt, dass Michelle weg ist. Unsere Mutter. Und dann kenne ich zwei Personen, die nicht zu Hause sind.«
Sie sah ihn an, fragend.
»Frag nicht«, sagte er. »Es gibt Leute, über die möchte man nicht reden.« Und plötzlich packte er Anna hart am Handgelenk. »Du sagst keinem in der Schule etwas«, sagte er. »Gitta nicht und niemandem sonst. Niemandem von deinen Freunden. Wenn du jemandem etwas sagst …«
»Du hast überhaupt keine Ahnung, wer ich bin«, sagte Anna. Sie zog ihr Handgelenk nicht weg, weil er genau das erwartete. Sie bemühte sich, nicht wegzuzucken. Ihre Angst vor ihm war in seinem erzählten Meer versunken, zusammen mit der Insel und der weißen Stute und dem Schloss, das nur einen Raum besaß. Seltsam.
»Keine Ahnung«, wiederholte sie. »Ich hab’s nicht so mit den anderen. Und – Abel? Setz die schwarze Mütze wieder auf. Du wirkst furchteinflößender, wenn du die Mütze trägst und die Hände in den Taschen vergräbst und die alten Walkmanstöpsel in den Ohren hast.«
Später lag sie auf dem Bauch auf ihrem Bett und sah durchs Fenster in den Garten hinunter. Die Rose an der Wand blühte noch immer. Sie hatte ihn stehen lassen. Sie hatte den Satz mit der Mütze gesagt und war zu ihrem Rad gegangen und hatte ihn stehen lassen, sie hatte sich nicht einmal von Micha verabschiedet, sie hatte sich benommen wie eine blöde Zicke aus einer Seifenoper.
Sie hatte sich so darüber geärgert, dass er gedacht hatte, sie wäre die anderen. Natürlich war sie die anderen – ein Stück weit. Jeder war die anderen, gerade mit achtzehn. Und es würde unendlich schwer sein, Gitta nichts zu erzählen.
Sie fischte das Telefon von der altmodischen Kommode neben ihrem Bett, die sie an einem zu grauen Tag geschliffen und grün angestrichen hatte. Sie wählte Gittas Nummer, um es hinter sich zu bringen.
»Gitta?«, sagte sie. »Wir haben doch über Abel gesprochen, neulich, weißt du? Was? Tannatek. Er hat einen Vornamen. Aber das ist unwichtig. Du hast gesagt, er hat vielleicht gar keine Schwester, und alles war gelogen.«
Gitta steckte mitten in einer physikalischen Formel, die sie für die Klausur lernen musste und die sie nicht verstand, und reagierte physikalisch verlangsamt.
»Ach so«, sagte sie schließlich, mit einem kleinen, gemeinen Schalk in der Stimme. »Deine Fickbeziehung.«
Anna ließ sich nicht ärgern, nicht diesmal, Gitta war lächerlich.Sie hatte angerufen, weil sie Gitta etwas sagen musste, und das tat sie.
»Du hattest recht«, sagte sie, »er hat keine Schwester. Es war eine Lüge.«
»Wie? Was?«, fragte Gitta. »Woher weißt du das?«
»Egal«, sagte Anna. »Du hattest mit noch einer Sache recht. Du hast gesagt, ich wäre in ihn verliebt … es ist wahr. Es war wahr. Aber ich bin jetzt in jemand anderen verliebt.«
»Gut«, sagte
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