Maerchenerzaehler
würde, der Punkt hinter dem letzten Satz war endgültig und ein wohlüberlegter Cliffhanger für das nächste Kapitel.
Dann brach Micha die Stille. »Sie stirbt doch nicht?«, fragte sie. »Sie erreicht doch das Festland? Glaubst du, sie erreicht das Festland? Rechtzeitig?«
Anna wartete auf eine Antwort von Abel, doch es kam keine.
»Sag doch mal!«, verlangte Micha mit ängstlicher Ungeduld. »Was glaubst du? Du hast doch auch zugehört!«
Erst da begriff Anna, dass Micha nicht Abel gefragt hatte. Sondern sie. Sie erwog nicht, so zu tun, als hätte sie wirklich nicht zugehört und wüsste nicht, dass Micha mit ihr sprach. Sie erwog es nicht einmal eine Sekunde lang. Es war nicht möglich. Michas Frage war zu direkt, zu unschuldig, zu laut. Sie drehte sich um und blickte nicht in Michas, sondern in Abels Gesicht. Er hatte Rücken an Rücken mit ihr gesessen, er war nah, viel zu nah. Das Blau in ihren Augen, Michas und seinen, war nicht das gleiche. Seine Augen waren kälter. Ihre Kälte war die eines Tiefkühlfachs, eine künstliche und notwendige Kälte, notwendig, um eine Funktion aufrechtzuerhalten. Kälte, die Strom, die Energie kostete. Er lächelte nicht.
»Sag doch mal!«, wiederholte Micha von der anderen Seite des kleinen runden Tisches.
»Ich gebe zu, ich habe zugehört«, sagte Anna und versuchte, zu lächeln. »Das, was ich lese, ist nicht besonders … verständlich. Und Gitta scheint nicht zu kommen. Also«, fügte sie hinzu, da sie ja zu Micha sprach, »die Freundin, auf die ich warte, weißt du? Da habe ich euch tatsächlich zugehört. War es denn … war es eine geheime Geschichte?«
Micha sah von Anna zu Abel, plötzlich besorgt. »Ist es eine geheime Geschichte?«, fragte sie.
Abel sagte noch immer nichts.
Und weil irgendetwas gesagt werden musste, sagte Anna: »Nein. Ich glaube auf gar keinen Fall, dass sie stirbt. Sie wird es schaffen. Der Seelöwe wird ihr helfen.«
»Was soll denn ein Seelöwe machen, gegen ein ganzes schwarzes Schiff voll von Diamantenjägern?«, fragte Micha mit durchaus geradliniger Logik.
»Es ist ein Märchen, nicht wahr?«, sagte Anna. »Vielleicht kann sich der Seelöwe verwandeln.«
»In was?«, wollte Micha wissen, doch Anna schüttelte den Kopf.
»Es ist nicht mein Märchen. Ich kann es nicht weitererzählen. Ich komme nicht darin vor.«
Sie steckte den dünnen gelb reclamiertenen Faust -Band in ihre Tasche und stand auf. »Ich denke, Gitta kommt nicht mehr. Ich kann nicht den ganzen Tag auf sie warten. Ich werde jetzt gehen.«
Abel stand ebenfalls auf. »Wir gehen auch. Micha, bringst du die Tasse zurück?«
»Aber nicht die Strohhalme«, sagte Micha und hielt sie hoch, fünf bunte Strohhalme, in der Wärme des Kakaos verbogen, verkringelt, verknotet, zu einem Knäuel zusammengefügt.
»Ich habe einen Seelöwen gemacht«, sagte sie.
Anna nickte. »Natürlich.«
Sie verließen die Cafete zusammen, sie gingen zusammen durch die gläserne Drehtür der Mensa, hinaus in die Kälte. Und Anna dachte die ganze Zeit: Er hasst es, dass ich zugehört habe. Er hasst mich, vielleicht. Er weiß, dass ich ihm nachspioniere.
Draußen blieb Abel am Fuß der drei überflüssigen Betonstufen zur Mensa stehen, während Micha über die Pfützen schlitterte, hin und her und wieder hin.
Anna blieb ebenfalls stehen, unschlüssig. Abel holte ein Päckchen Tabak und Filterpapier aus der Tasche und begann, eine Zigarette zu drehen, doch er sah nicht das Filterpapier an, er sah die ganze Zeit über sie an. Und irgendwie konnte sie deshalb nicht gehen. Man kann nicht gehen, wenn einen jemand ansieht, es war wieein Gespräch, doch Anna wusste nicht, was gesagt wurde. Micha schlitterte. Sie konnte seinen Blick nicht deuten.
»Du rauchst nicht, oder?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf und er steckte die Zigarette an. Micha schlitterte.
»Abel«, sagte Anna schließlich. »Abel de Saint-Exupéry.«
»Ja, es war etwas viel Saint-Ex«, sagte Abel, Saint-Ex, als würde er ihn kennen.
Anna nickte. »Wörtlich. Beinahe. Keine von ihnen wird meine weiße Stute sein …«
»Die Rose«, sagte Abel. »Die Rose des kleinen Prinzen. Natürlich. Ich konnte ja nicht wissen, dass du zuhörst.«
»Ich bin nicht gekommen, um zuzuhören«, sagte Anna und erklärte den Satz insgeheim zur Lüge des Tages. »Ich … ich musste zuhören. Verstehst du? Ich … es ist eine wunderbare Geschichte. Woher hast du all diese Worte? All diese Bilder?«
»Aus der Realität«, sagte Abel.
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