Maerchenerzaehler
Gitta. »Liebes Kind, du weißt, ich würde dir gern länger zuhören, aber diese Physiksache ruft mich.«
»Natürlich«, sagte Anna und unterbrach die Verbindung. Sie stützte das Gesicht auf die Arme und lag eine Weile in selbst gemachter Dunkelheit. Sie würde sich etwas ausdenken müssen für Gitta. Eine lächerliche, dumme Verliebtheit. In wen? Bertil, dachte Anna. Aber Bertil würde sich freuen und deshalb war es unfair. In einen der Studenten vielleicht. Sie stand auf und nahm ihre Querflöte vom Notenständer. Als sie die Flöte ans Ohr hielt, nur probeweise, hörte sie darin das weiße Rauschen zwischen den Radiokanälen. Sie hob sie an die Lippen und spielte die ersten Töne von Suzanne in das Rauschen hinein oder aus dem Rauschen heraus oder mit dem Rauschen zusammen:
Suzanne takes you down to her place near the river
You can hear the boats go by
You can spend the night beside her …
Was für ein ururaltes Lied. Woher hatte jemand wie Abels Mutter eine Kassette von Leonard Cohen? Michelle, er hatte »Michelle« gesagt. Michelle hatte nie Englisch gelernt, höchstens vielleicht Russisch, früher lernten sie Russisch. Wie war sie an eine solche Kassette gekommen? Und wo, dachte Anna plötzlich, wo war Michelle?
Sie stand unten im Wohnzimmer vor der Glastür zum dämmernden Garten, als ihre Mutter nach Hause kam, und betrachtete den Garten durch ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe. Da war der Umriss schmaler Schultern, langes, dunkles Haar, eine halb durchsichtige Person voller winterlicher Büsche. Man hatte ihr gesagt, dass sie hübsch sei. Erwachsene hatten es gesagt, auf die wohlwollende Art, die Erwachsene für junge Mädchen reserviert haben, die sie zusätzlich zu »hübsch« mit den Attributen »nett« und »wohlerzogen« bedenken. Die Erwachsenen freuten sich immer darüber, wenn sie feststellen konnten, wie sehr sie ihrer Mutter ähnelte und wie wenig ihrem Vater. Dabei dachte Anna, dass sie innerlich viel eher ihrem Vater glich … In ihr keimte der unbestimmte Wille, stark zu sein und gehört zu werden, irgendwann für irgendetwas zu kämpfen, irgendwo … aber wo? Für was? Und gegen wen?
Dass Linda nach Hause kam, hörte man nur daran, dass sich der Schlüssel im Schloss behutsam drehte. Linda war eine leise Person, eine sanfte Person, man konnte sie übersehen, und es kam vor, dass sie übersehen wurde. Sie war Privatdozentin für Literatur an der Uni, sie war weder beliebt noch unbeliebt bei ihren Studenten, denn sie übersahen sie, sie hörten ihre Vorlesungen und erinnerten sich später nur an die Worte, nicht daran, wer sie gesagt hatte. Vielleicht war das die beste, reinste Form der Vorlesung. Oder die schlechteste.
Linda trat lautlos hinter Anna. Doch Anna spürte ihre leise, unaufdringliche Anwesenheit. Sie dachte an Abels Worte: »Wenn man sich sein ganzes Leben kennt, kann man einander auch im Dunkeln sehen.« Sie lächelte unwillkürlich.
»Du denkst über etwas nach«, sagte Linda.
Anna nickte. »Ich denke immer über etwas nach.«
Eine Weile schwiegen sie und sahen gemeinsam hinaus in die kleine Welt des Gartens zwischen den Hinterhäusern, wo ein Rotkehlchen unter dem Rosenstrauch an der Wand herumhüpfte und die Körner auflas, die Magnus für die Vögel ausgestreut hatte. Magnus liebte die Vögel. Vielleicht so sehr wie seine nachdenkliche Tochter und seine leise Frau. Es war, dachte Anna, einfacher für ihn, mit den Vögeln zu sprechen, die weder zu viel nachdachten noch sich bemühten, leise zu sein. Wenn er es sich aussuchen könnte, sagte Magnus immer, würde er nie mehr in seine Praxis gehen und stattdessen den ganzen Tag die Vögel im Garten beobachten.
»In letzter Zeit denke ich über alles auf einmal nach«, sagte Anna. »Eben habe ich über Papa nachgedacht und seine Rotkehlchen. Und über dich … und mich … Es klingt belanglos, aber das ist es nicht. Wir … Magnus und du und ich … wir leben in einem Universum, in dem nur wir existieren, und … andere Leute leben in anderen Universen … aber unseres … es ist so … ich weiß nicht … ästhetisch? Vielleicht ist es zu ästhetisch.«
»Zu … ästhetisch«, wiederholte Linda verunsichert.
»Ist dir aufgefallen, dass das Licht im Haus immer blau ist?«, fragte Anna. »Es ist, als gäbe es einen Filter, womöglich den Garten, und durch diesen Filter wird das Licht sanft und blau, ehe es ins Haus kommt. Oder womöglich bist der Filter du … oder Magnus …« Sie drehte sich um und
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