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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sah ihre Mutter an und sah, dass sie nichts verstand. »Die Plattenbauten im Ostseeviertel … in Schönwalde … warst du je in einem drin?«
    Linda schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin oft an ihnen vorbeigefahren, auf der Wolgaster oder auf der Anklamer Straße, es lässt sich nicht vermeiden …«
    »Ja«, sagte Anna. »Genau das ist es, was ich sagen will. Man fährtdaran vorbei. Man sieht sie und denkt: Diese hässlichen Klötze, warum sind sie nicht längst abgerissen? Und dann fährt man weiter und vergisst sie, weil sie in unserem blauen Universum mit den Rotkehlchen und dem Rosenbusch nicht existieren. Aber sie existieren. Die Plattenbauten existieren, und die Leute, die darin wohnen, existieren, und –« Sie brach ab. Sie hatte nicht die richtigen Worte. Abel hatte mehr Worte, richtigere Worte, wie erstaunlich, dass gerade Abel Tannatek die richtigen Worte hatte.
    »Als du Magnus kennengelernt hast«, sagte sie, »was hast du da gedacht? Als Allererstes?«
    Linda überlegte. »Es war auf diesem Medizinerball«, sagte sie. »Gegen Ende des Studiums. Du kennst die Geschichte. Irgendjemand hatte mich dorthin mitgenommen, ich hatte mir sogar ein Kleid gekauft. Auf dem Ball war es schrecklich, es war laut, es war voller Zigarettenqualm, damals durfte man noch überall rauchen. Man sah fast nichts, wegen des Qualms. Das Erste, was ich gedacht habe, war: Er hat mich bemerkt. Trotz all der Leute und des Qualms und obwohl ich niemals bemerkt wurde … Er kam auf mich zu, dieser etwas zu große, etwas zu breite Mann, den ich noch nie gesehen hatte … und sagte, er könne nicht tanzen und ob ich mit ihm zusammen nicht tanzen wollte.«
    Ihr Gesicht rutschte in die Vergangenheit, ihre grauen Augen sanken hinter einen glänzenden, goldenen Schleier, und Anna nickte. Doch innerlich schüttelte sie den Kopf. Das alles nützte ihr wenig. Ein Kleid gekauft. Medizinerball. Linda und Magnus hatten von Anfang an im gleichen Universum gelebt.
    Annas Gedanken kreisten das ganze Wochenende um ein blutrotes Meer und ein Schiff mit schwarzen Segeln. Der Raureif im Gartenwar ein Mantel aus Zugvogelflaum und die Schatten der Büsche am Abend glichen den Wogen einer unendlichen See. Sie übte noch mehr Querflöte als sonst, um sich abzulenken, und die Flöte hatte einen seltsamen, neuen Klang. Sie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er ihr gefiel oder ihr Angst machte.
    Am Montagmorgen quälte sie sich durch zwei Stunden Geschichte in einem luftleeren Unterrichtsraum, in dem auch Abel Tannatek hätte sitzen sollen, ganz hinten, wo er geschlafen hätte, wenn er da gewesen wäre. Er war nicht da. Anna fragte sich, ob etwas mit Micha nicht in Ordnung war. Sie erfand für Gitta eine geflüsterte Geschichte von einem Studenten, den sie in der Mensa getroffen hatte, eine Art Konglomerat aus allen drei Studenten, und Gitta schien zufrieden mit der Geschichte.
    »Nur eins«, sagte sie, »eins verstehe ich nicht. Warum warst du alleine in der Mensa?«
    Beinahe hätte Anna geantwortet: »Ich habe auf dich gewartet«, doch dann legte sie nur den Finger auf die Lippen und deutete zu der ungehaltenen Geschichtslehrerin, die die Abiturienten immer ansah, als wären sie ungezogene kleine Kinder und bekämen heute keine Fleißbildchen, wenn sie weiterhin nicht aufpassten.
    Abel erschien zur dritten Stunde, zu Deutsch. Er sah übernächtigt aus. Er legte den Kopf auf die Arme und schlief sofort ein und Herr Knaake sah es genau und sagte nichts. Er sagte nie etwas zu Abel, als gäbe es zwischen ihnen ein stilles Einverständnis, eine Abmachung, nichts zueinander zu sagen. Sie sagten seit eineinhalb Jahren nichts zueinander. Und Anna dachte: Es ist doch Unsinn, dass er überhaupt kommt, wenn er sowieso schläft. Aber womöglich braucht er die Worte, die hier gesagt und gelesen werden, vielleicht diffundieren sie auf eine merkwürdige Weise auch im Schlaf in ihn hinein.Erst später dachte sie: Hier ist er sicher. Der Knaake sagt nichts, er muss auf niemanden aufpassen, und er kann in Ruhe schlafen, vielleicht kommt er deshalb. Gegen Ende der Doppelstunde wachte Abel auf. Er sah Anna nicht an. Er nahm die schwarze Wollmütze ab. Nach der vierten Stunde blieb Abel zurück, als wartete er auf etwas, und Anna trödelte auf dem Flur, suchte etwas in ihrem Rucksack, das nie darin gewesen war, enthedderte ein Jackenbändsel, das nicht verheddert war. Abel kam nicht. Und dann hörte sie ihn drinnen, im Kursraum, mit dem Knaake sprechen. Also bezog

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